Wie man’s sieht
16.10.2025 Kolumneglaubwürdig
Als das Museum of Modern Arts in San Francisco wieder eröffnet wurde, herrschte grosser Andrang. Auch eine Gruppe Jugendlicher betrachtete die zeitgenössischen Kunstwerke. Einer von ihnen legte spontan eine Brille auf den Boden. Bald wurden die ersten ...
glaubwürdig
Als das Museum of Modern Arts in San Francisco wieder eröffnet wurde, herrschte grosser Andrang. Auch eine Gruppe Jugendlicher betrachtete die zeitgenössischen Kunstwerke. Einer von ihnen legte spontan eine Brille auf den Boden. Bald wurden die ersten Museumbesuchenden darauf aufmerksam. Sie blieben stehen und bewunderten das vermeintliche Ausstellungsstück. Einige knieten sogar davor, um es zu fotografieren. Das Brillenexperiment wurde bald über Social Media bekannt und löste viele Kommentare aus. Angeblich reichten sie von Häme und Schadenfreude bis zu Bewunderung und tiefsinnigen Erwägungen. Ich selbst musste lächeln, als ich von diesem originellen Experiment las. Lächerlich finde ich es aber nicht. Die Jugendlichen verleiteten andere dazu, einen Alltagsgegenstand wie ein Kunstwerk zu betrachten und zu würdigen. So nahmen diese etwas Bekanntes neu wahr.
Was dies in ihnen auslöste, weiss ich nicht. Ich aber fragte mich: Was aus unserem Alltag wird oft übersehen, hätte aber ebenfalls die interessierte Aufmerksamkeit eines Museumsbesuchers verdient? Mir wurde rasch bewusst, wie viel ich selbstverständlich hinnehme, ohne seine Qualität zu würdigen. Das meiste aus meinem Alltag gibt es nur, weil vieles zusammenkommt, das ich nicht mir selbst verdanke. Im Fall der Brille stecken Wissen aus Medizin, Optik und Technik dahinter, ästhetische Gesichtspunkte, ein funktionierender Handel und gute Beratung. Bei einer ÖV-Verbindung sind es neben Fahrzeug, Strassen und Infrastruktur auch Logistik, Ticketservice und Reinigung. Bis ich einen Apfel kaufen kann, haben bereits zahlreiche Menschen im Obstbau, beim Verpacken, Transportieren und im Verkauf Hand angelegt. Und sogar die Tomate aus dem eigenen Garten kann nur gedeihen, wenn Bodenqualität, Wetter und Pflege stimmen. Die meisten Faktoren können wir nicht beeinflussen. Dennoch sind all diese Dinge Teil unseres Alltags. Das ist ein Grund, um dankbar zu sein.
Deshalb machen die Kirchen beim Erntedankfest etwas Ähnliches wie der Jugendliche im Museum: Sie lenken die Aufmerksamkeit auf etwas – bei uns – Alltägliches, damit wir es bewusst würdigen. Denn in Wahrheit sind es sehr besondere Dinge: Brot, Obst, Gemüse, Korn, Wasser … Wir brauchen sie zum Leben. Das wenigste verdanken wir uns selbst. Wenn wir uns das bewusst machen, gehen wir achtsamer damit um – um so mehr, wenn wir dahinter Gottes Segen spüren.
CAREN ALGNER, PFARRERIN EVANGELISCHE KIRCHGEMEINDE AADORF-AAWANGEN
Sonnenuntergang
Du kannst einen Sonnenuntergang sehen und gleichgültig danebensitzen. Sie geht auch ohne dich unter. Und wieder auf.
Du kannst auch zugucken und dich darüber ärgern, dass andere Menschen häufiger schöne Sonnenuntergänge sehen.
Du kannst bekümmert denken:
Ach, schon wieder ein Tag zu Ende und ich dem Tod etwas näher.
Oder du kannst den Sonnenuntergang bestaunen. Die Zeit dabei vergessen. Vielleicht Gott dafür danken. Die Verlässlichkeit von Tag und Nacht rühmen. Und dankbar zu Bett gehen.
Christina Brudereck (aus: Trotzkraft, 2Flügel Verlag)
Zum Mitnehmen in den Alltag
Wem verdanke ich etwas Alltägliches? Der Busfahrerin, dem Strassenreiniger, der Verkäuferin, dem Zeitungsmacher, Verwandten, SchulkollegInnen … Warum nicht einmal ausdrücklich dafür danke sagen?