Weshalb lesen wir Krimis?
08.07.2023 KolumneDie Ferienzeit naht: Endlich Zeit, wieder mal im Liegestuhl zu baumeln, ein kühles Bier in Reichweite und einen Krimi verschlingen. Ausgerechnet Straftaten, Morde, organisiertes Verbrechen und Polizeikorruption. Weshalb tun wir uns das in unserer Freizeit an? Warum genügen uns die ...
Die Ferienzeit naht: Endlich Zeit, wieder mal im Liegestuhl zu baumeln, ein kühles Bier in Reichweite und einen Krimi verschlingen. Ausgerechnet Straftaten, Morde, organisiertes Verbrechen und Polizeikorruption. Weshalb tun wir uns das in unserer Freizeit an? Warum genügen uns die täglichen Schreckensmeldungen aus Nah und Fern nicht?
Offensichtlich hält uns das eine nicht vom andern ab – im Gegenteil. Krimiliteratur boomt. Jährlich erscheinen Hunderte von neuen Krimis, darunter hochkomplexe, irrsinnig spannende, aber offen gesagt auch ziemlich viel Masse und belangloser Schmarren. Zum Beispiel die önologischen Krimis, in denen auf jeder Seite ein anderer Wein geöffnet und erläutert wird, sind nicht so mein Ding. Abgesehen davon verleiten sie zum Alkoholismus, weil ich dann «gluscht» auf Wein bekomme und prompt in den Keller … aber das gehört jetzt nicht hierhin.
Nun, Verbrechen und Gruseln faszinieren. Menschliche Abgründe sind interessant. Raffiniert aufgebaute Geschichten lenken uns von unserem Arbeits- und Sitzungsalltag ab. Sie führen uns in Welten, die wir in unserem Umfeld nicht kennen: in die finstere Seite der Luxusklasse, verworrenen Machtspiele Venedigs, Strukturen der Mafia und Paten oder die stürmischen Küsten der Bretagne, wo gerade mal wieder eine übel zugerichtete Leiche angeschwemmt wird. Wir zittern mit erhöhtem Puls vor Spannung, haben Angstschweiss auf der Stirn und knobeln gerne kriminalistische Rätsel. Kommen wir dem Täter auf die Spur? Erraten wir die Lösung? Sind wir so schlau wie Hercule Poirot? Können wir den Hinweisen folgen, die der Autor oder die Autorin in den Plot einstreuen? Sind wir ihnen gar voraus und erahnen, welcher Zeuge als Nächster beseitigt wird? Ist die indizienkette überzeugend? Siegt die Gerechtigkeit? Offenbar ist uns der normale alltag schlicht zu langweilig.
Und seien wir ehrlich: Krimis entführen uns auch in die eigenen psychischen Dunkelkammern. Haben Sie nicht auch schon im Zug in Gedanken die Nervensäge im nächsten Abteil erwürgt, die am iPhone persönlichstes Zeug zum Besten gibt, das niemand im Wagen wissen will? Sahen Sie auch schon vor dem geistigen Auge den Hornochsen auf dem Campingplatz im See ertrinken, der nur herumsäuft, seine Frau ständig anschnauzt und sich bedienen lässt? Wie oft haben Sie schon andere Autofahrer verwünscht, die Ihnen den Vortritt abgeklemmt haben oder auf der Autobahn die Überholspur partout nicht freigeben wollen? Oder wollten Sie nicht dem Polizisten, der Ihnen wegen fünf Minuten überzogener Parkzeit eine Busse aufgebrummt hat, einen TritT ans Schienbein verpassen? Wie? Sie haben keine solchen Gedanken? Dann ist schwarzer Humor nicht unbedingt Ihre Stärke oder ich habe Ihnen zu Ihrer Gelassenheit zu gratulieren. Ich habe sie nicht immer, übe sie Kolumne schreibend, lebe meine Mordgedanken nicht aus und lese endlich wieder mal einen Krimi.