Von Zustimmung zu Widerspruch
28.04.2022 AbstimmungenDie Schweizer Stimmberechtigten entscheiden am 15. Mai über die Änderung des Transplantationsgesetzes. Bisher galt die sogenannte Zustimmungslösung, welche neu durch eine Widerspruchslösung ersetzt werden soll. Gegen die Neuregelung der Organspende hatte ein überparteiliches Komitee das Referendum ergriffen.
Gemäss Abstimmungsunterlagen hätten in den vergangenen fünf Jahren in der Schweiz im Schnitt jährlich rund 450 Menschen eines oder mehrere Organe einer verstorbenen Person erhalten. Der Bedarf sei allerdings deutlich grösser. Eine Transplantation wäre heute nur möglich, wenn die verstorbene Person der Spende zu Lebzeiten zugestimmt hat (Zustimmungslösung). Der Wille der betroffenen Person sei aber häufig nicht bekannt. Dann müssten die Angehörigen entscheiden. In der Mehrheit der Fälle sprächen sie sich gegen eine Organspende aus.
Bundesrat und Parlament möchten die Chance von Patientinnen und Patienten erhöhen, ein Organ zu erhalten. Sie wollen darum die Organspende neu regeln: Wer seine Organe nicht freigeben möchte, müsste dies zu Lebzeiten festhalten (Widerspruchslösung). Hat eine Person nicht widersprochen, werde davon ausgegangen, dass sie ihre Organe spenden möchte. Gleichwohl würden in diesem Fall die Angehörigen beteiligt. Sie könnten eine Organspende ablehnen, wenn sie wissen oder vermuten, dass die betroffene Person sich dagegen entschieden hätte. Sind gemäss Abstimmungstext keine Angehörigen erreichbar, dürfen keine Organe entnommen werden.
Das geänderte Transplantationsgesetz sei ein Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten». Auch diese verlange den Wechsel zur Widerspruchslösung, regle aber die Rolle der Angehörigen nicht. Sie wurde unter der Bedingung zurückgezogen, dass das geänderte Transplantationsgesetz in Kraft tritt. Weil gegen das Gesetz ein Referendum zustande gekommen ist, wird darüber am 15. Mai abgestimmt. Dafür stimmen SP, Grüne, FDP, GLP und Die Mitte, dagegen die SVP, EVP und EDU.
Dem Missstand entgegenwirken
Im vergangenen Jahr seien 1434 Personen auf der Warteliste für ein Spenderorgan gestanden. Pro Woche würden ein bis zwei Menschen sterben, während sie auf ein solches warten. Der neue Gesetzesvorschlag könne diesem Missstand entgegenwirken, argumentieren die Befürworter der Vorlage. Laut Argumentarium des Ja-Komitees hätten gemäss Umfrage des Bundesamts für Statistik von 2017 16,4 Prozent der Schweizer Bevölkerung eine Organspenderkarte im Portemonnaie. 36,9 Prozent sollen ihre Absicht mündlich gegenüber ihren Angehörigen geäussert haben. Jedoch hätten sich gemäss den Zahlen von Swisstransplant nur gerade zwei Prozent im Organspenderregister eingetragen. Der Wille bei Verstorbenen sei meist unbekannt. Das führe oft zur Ablehnung der Organspende, obwohl diese im Sinn der verstorbenen Person gewesen wäre.
Die erweiterte Widerspruchslösung sei laut Befürwortern keine automatische Organspende. Jede Person habe die Freiheit, ihr zu widersprechen. Stelle sich die Frage nach einer solchen, würden die Fachpersonen in den Spitälern das Gespräch mit den Angehörigen suchen. Liege keine Willensäusserung vor, könnten diese der Entnahme von Organen, Geweben oder Zellen widersprechen, wenn dies dem mutmasslichen Willen der verstorbenen Person entspreche.
Eingriff in freiheitliche Grundordnung
Für das gegnerische Nein-Komitee sei die Widerspruchsregelung ein inakzeptables Mittel, weil sie medizinethische und verfassungsrechtliche Grundsätze verletze. Auch fehle der wissenschaftliche Nachweis, dass sie zu mehr Spenden führe. Der eigene Körper gehöre zum Persönlichsten, was der Mensch habe. Daher brauche es zu jeder medizinischen Handlung, selbst zu einer Blutentnahme oder Impfung, eine ausdrückliche Zustimmung – bei grösseren Eingriffen sogar eine Unterschrift. Der Staat dürfe Sterbende nicht wie ein Ersatzteillager behandeln und sich bedienen, ohne gefragt zu haben. Einem Menschen dürften daher keine Organe entnommen werden, wenn dieser nicht ausdrücklich zugestimmt habe.
Es könne nicht sein, dass das Menschenrecht auf Unversehrtheit des Körpers nur noch gelte, wenn es eingefordert werde, so die GeGner. Die Widerspruchsregelung verletze dieses in der Bundesverfassung (Art. 10, Abs. 2) garantierte Menschenrecht. Sie sei darum ein Angriff auf die freiheitliche Grundordnung. Es sei zudem völlig unrealistisch, dass die sechs Millionen erwachsenen Einwohner der Schweiz lückenlos informiert werden könnten, dass sie widersprechen und sich in ein Register eintragen müssen, wenn sie ihre Organe nicht spenden wollen. Die Widerspruchsregelung würde unweigerlich dazu führen, dass Personen gegen ihren Willen Organe entnommen werden, weil sie zu Lebzeiten nicht wussten, dass sie hätten widersprechen müssen.
RENÉ FISCHER