Vanessa Sacchet im Gespräch mit Stefan Dudli
04.06.2022 DickbuchStefan Dudli, geboren am 15. August 1965 in Glarus, wuchs zusammen mit fünf Geschwistern auf. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Der gelernte Primarlehrer, Oberstufenlehrer und Schulleiter CAS ist seit August 2021 Gesamtleiter der Privatschule Salzh (Schulalternative Zürich), die mit dem Slogan «An der Salzh lerne ich etwas fürs Leben» wirbt.
«Wir sind kein Ersatz oder besser als die Volksschule. Sondern eine Alternative, bei der die Eltern die Wahlmöglichkeit besitzen. Was uns unterscheidet, ist die Grundlage, die sich vom Christentum ableitet, was wir auch klar deklarieren gegenüber den Eltern, die ihre Kinder zu uns schicken möchten. Wir unterscheiden uns auch auf der pädagogischen Ebene. Ein grosser Teil des Unterrichts findet ausserhalb des Schulzimmers statt. Wir unternehmen tendenziell mehr Exkursionen, wie ein Besuch auf dem Bauernhof, veranstalten Lager, oder gehen in den Wald. Alles Dinge, die von der Pädagogik her sehr wichtig sind. Wir sind dauernd bestrebt, uns zu entwickeln. Wir haben unsere Beurteilung überarbeitet, in der zusammengefasst nicht aufgezeigt wird, wie weit die Kinder vom Standard abweichen, sondern wo aufgezeigt wird, was sie alles können und was sie für Kompetenzen und Fähigkeiten besitzen. Ein wesentlicher Punkt ist, dass wir in engem Kontakt mit den Eltern stehen und mit ihnen auf partnerschaftlicher Ebene arbeiten.»
Im Jahr 2008 in Rumänien bei den Roma
«Meine Frau und ich haben uns damals Gedanken gemacht, was wir unseren Kindern noch für Werte mitgeben möchten. Die älteste Tochter war damals 16 Jahre alt. Wir wollten ihnen einen Zu- und Umgang zur Armut ermöglichen und ihnen eine gewisse Verantwortung gegenüber armen Leuten näherbringen. So suchten wir nach etwas, wo wir der Meinung waren, dass es passt und sind mit unseren drei Kindern für zwei Wochen nach Rumänien gefahren, wo wir einen Einsatz bei den Roma hatten. Das war sehr prägend und eindrücklich für uns Eltern sowie für die Kinder. Ich hatte danach von diesem Einsatz in der Schule erzählt und wir fanden, dass wäre etwas, das wir in der Oberstufe in der Salzh ebenfalls anbieten könnten», erinnert sich Dudli und ergänzt: «Als privilegierte Leute haben wir eine Mitverantwortung gegenüber Menschen, denen es schlechter geht und die weniger besitzen als wir. Also starteten wir einen ersten Versuch, der allerdings scheiterte, weil es zu wenige Anmeldungen gab. Es war zu teuer und zu weit weg. Im zweiten Anlauf klappte es. Diese Einsätze im Ausland sind für unsere Schüler freiwillig, im Gegensatz zu den obligatorischen Lagern. Wir waren in der Nähe der ungarischen Grenze und haben dort mit einer befreundeten christlichen Schule Kontakt aufbauen können. In einem späteren Schritt erhielten wir Zugang zu den Roma. Gestartet haben wir mit einem Einsatz in einem Kinderheim. Dort haben wir mit den Kindern gespielt, führten Arbeiten im Garten aus und bauten einen Hühnerstall. Wir waren in Altersheimen, haben uns mit den Leuten dort unterhalten so gut es ging, sangen und spielten für und mit ihnen. Wir erhielten dann einen Kontakt einer Organisation, die unter den Roma arbeitet. Was gar nicht so einfach ist, da zwischen den Rumänen und den Roma kein gutes Verhältnis herrscht. Wir haben den Sprung geschafft, sind zuerst zu dieser Schule und haben zwei Tage dort verbracht und den Kontakt vertieft und konnten schliesslich gemeinsam mit dieser Organisation unter den Roma arbeiten. Vor Ort haben wir praktische Arbeiten verrichtet; wir hackten Holz, rodeten Büsche, haben Gartentürchen angestrichen und Wege betoniert. Mit den Kindern dort veranstalteten wir eine kleine Spiel-Olympiade. Sie mussten Spielposten vorbereiten mit einfachen Dingen wie Gesichter schminken, einen Tanz einüben, Sackhüpfen, Seilziehen und Büchsenschiessen. Wir haben zusammen gebastelt, was ihnen grosse Freude bereitet hat. Auch unsere Schüler haben es sehr genossen.»
Ein Rundgang durch die Roma-Dörfer hinterliess Eindruck
«Wir sahen, wie sie leben und wohnen und durften ihre Häuser besichtigen. Das war der stärkste Eindruck, den man bei unseren Schülern hinterlassen konnte. Die Wohnsituation ist unterschiedlich. Es hat sich etwas verbessert im Laufe der Jahre. Man sieht ab und zu ein gemauertes Haus. Die Häuser, die wir besuchten, muss man sich so vorstellen: Ein Haus besitzt etwa die Grösse eines Schlafzimmers in unseren Häusern, vielleicht maximal 20 Quadratmeter. Dort lebt eine alleinerziehende Mutter mit ihren sieben Kindern. Es gibt drei Sofas, einen Herd, der gleichzeitig als Heizung dient, eine klapprige Türe, ein Fenster, das mit Plastik zugeklebt ist. Die Wände sind aus Balken mit Lehm verschmierten Ritzen, durch die man trotzdem nach draussen sehen kann. Wenn man weiss, dass in Rumänien im Winter über längere Zeit minus 20 Grad herrschen, fragt man sich, wie es überhaupt möglich ist, dies zu überleben. Tatsächlich erfrieren im Winter immer wieder Leute. Wenn zum Beispiel in der Nacht niemand erwacht, um im Herd Holz nachzulegen. Oder wenn einfach kein Holz mehr da ist, weil sie dermassen bitterarm ist, kommt es vor, dass eine ganze Familie erfriert. Zu sehen, dass acht Personen auf nur drei Sofas schlafen, wirft grosse Fragen auf. Unsere Schüler sind in der Oberstufe zwischen 14 und 15 Jahre alt und sind unterschiedlich damit umgegangen. Man hat gemerkt, dass sie beeindruckt waren, als wir im Haus drinstanden und sie einfach sprachlos waren; was selten ist bei einer Gruppe von Jugendlichen. Erst später begannen sie, darüber zu sprechen. Ich habe nachgefragt, wie sie es erlebten. Am Abend machten wir immer eine Rückblickrunde, um herauszufinden, was vom Tag hängenblieb, was hat einen beeindruckt? Die Erfahrungen und Eindrücke wurden besprochen. Es ist wichtig, dass die Schüler wissen, dass mit ihrem Einsatz das Problem nicht gelöst ist; aber, dass sie einen Lichtstrahl der Hoffnung zu den Menschen bringen können. Wir kommen und reisen dann wieder ab. Die Kinder dort wohnen nach unserem Besuch immer noch im selben Haus. Aber sie hatten ein paar schöne und unvergessliche Momente gemeinsam mit unseren Schülern; was unter Umständen eine sehr grosse Auswirkung hat. Die Organisation vor Ort bleibt und arbeitet weiterhin mit diesen Leuten, sie bringt Essen oder Medikamente vorbei und betreibt eine Schule.»
Besuch mit langfristiger Wirkung
«Unser Einsatz dauerte zehn Tage, vor Ort waren wir effektiv acht. Das hat eine langfristige Wirkung, weil die Mitarbeitenden der Organisation sehr motiviert wurden durch unseren Besuch. Es ist dort schrecklich und grauenhaft, aber wir konnten direkt und indirekt etwas zur Verbesserung bewirken. Es gab auch Schüler, die mir gesagt haben: ‹Herr Dudli, ich halte das nicht aus. Kann ich im Lagerhaus bleiben?› Es ist ja nicht nur die materielle Not, sondern auch die physische und geistige. Fast jedes dieser Kinder ist sexuell missbraucht oder geschlagen worden. Es gibt sehr viel Alkohol und Gewalt und es herrscht sehr grosse Hoffnungslosigkeit. Da gab es Schülerinnen und Schüler, die das nicht ertragen haben; dieses Elend kann einem schon überwältigen. Trotzdem gab es ab und zu Kinder aus unseren Klassen, die mit anderen Organisationen weitere Einsätze in Rumänien geleistet haben. Die Begründung dafür: ‹Jetzt weiss ich, was ich im Leben machen möchte.›
Dieses Jahr möchten wir gerne in den ersten beiden Juni Wochen mit zehn Schülern nach Ruanda, wo wir Kontakt mit einer Christlichen Schule als Basis haben. Wir möchten gemeinsam mit der Partnerschule ein Programm zusammenstellen und die ganz armen Schulen dort besuchen. Geplant ist, vor Ort einfache naturwissenschaftliche Versuche zu unternehmen, gemeinsam zu werken, zu gestalten, zu spielen und sportliche Aktivitäten durchzuführen.» Ich frage Stefan Dudli was ihm solche Projekte bedeuten. Seine Antwort: «Ich wandere gerne, lerne gerne fremde Orte und fremde Kulturen kennen, was interessant und spannend ist. Ich als Schulleiter – wenn ich wählen könnte – würde nur noch Projekte durchführen, weil ich sehe, dass der Lerneffekt fürs Leben bei den Schülern mit Abstand der Grösste ist. Ich kann ihnen etwas von hohem Wert mitgeben, das ich im Klassenzimmer nie schaffen würde. Das ist für mich die wichtigste Motivation.»
VANESSA SACCHET