Vanessa Sacchet im Gespräch mit Rudolf Pulfer
30.11.2024 Häuslenen, Leute aus der RegionRudolf Pulfer, geboren am 7. März 1953 in Frauenfeld, wuchs gemeinsam mit seinen fünf Geschwistern auf. Der gelernte Elektromonteur ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Im Jahr 1961, als er gerade acht Jahre alt war, erkrankte er an Kinderlähmung. Wie sich die Krankheit ...
Rudolf Pulfer, geboren am 7. März 1953 in Frauenfeld, wuchs gemeinsam mit seinen fünf Geschwistern auf. Der gelernte Elektromonteur ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Im Jahr 1961, als er gerade acht Jahre alt war, erkrankte er an Kinderlähmung. Wie sich die Krankheit damals bemerkbar machte und wie der heute 71-Jährige damit lebt, erzählt er mir in einem Gespräch.
«Anfang August, nach einem Tag im Schwimmbad Elgg, kam ich nach Hause. Wie jeden Abend halfen wir unserem Vater im Stall beim Füttern der Tiere. Plötzlich spürte ich, dass ich keine Kraft mehr hatte. Ich setzte mich in der Scheune ins Gras und legte mich schliesslich hin, weil ich nicht mehr aufstehen konnte. Es ging alles sehr schnell. Meine Eltern riefen sofort Dr. Stockar, doch er konnte nichts für mich tun und sagte, ich müsse sofort ins Spital. Da wir kein Auto besassen und kein Krankenwagen verfügbar war, brachte mich ein Nachbar mit seinem Auto nach Winterthur ins Krankenhaus. Dort wurde ich untersucht, doch niemand konnte anfangs sagen, was mit mir los war. Ich wurde in ein Einzelzimmer in Quarantäne gebracht. Es war für mich eine sehr schwierige Zeit, da ich mich von einem Moment auf den anderen nicht mehr bewegen konnte. Besonders betroffen waren meine Beine, der Rücken und die Arme. Schliesslich stellte man fest, dass ich an Kinderlähmung erkrankt war. Ich erinnere mich, dass ich bis Ende November in Isolation bleiben musste. Ausser dem Personal und den Ärzten durfte niemand mein Zimmer betreten, nicht einmal meine Eltern. Mein Vater schlich sich zu Beginn einmal heimlich zu mir ins Zimmer, als die Tür nicht abgeschlossen war. Nach einiger Zeit durften sie mich besuchen. Später teilte ich für ein paar Wochen mit einem Jungen, der etwas älter war als ich, das Zimmer. So hatte ich jemanden, mit dem ich mich austauschen konnte. Während meiner Isolation konnte ich mich kaum bewegen und nicht aufsetzen. Wenn ich zur Toilette musste, kam das Pflegepersonal und schob mir den Topf im Liegen unter. Auch das Essen konnte ich nicht selbstständig bewältigen und musste gefüttert werden. Nichts ging ohne Unterstützung. Ich erinnere mich, dass ich im Wasser Physiotherapie erhielt. Da sich alle meine Sehnen durch die Krankheit verkürzt hatten, mussten sie wieder gestreckt werden. Ich lag auf einer Liege, und vier Therapeuten hielten mich fest, während sie an meinen Gliedmassen zogen. Das war eine schreckliche Erfahrung. Doch 1961 war die Medizin noch nicht so weit entwickelt wie heute. Die ausgebildeten Therapeuten kamen alle aus Holland und den Niederlanden, da es in der Schweiz noch keine spezialisierte Ausbildung für diese Art von Behandlung gab. Im Dezember, kurz vor Weihnachten, durfte ich endlich nach Hause.»
Ein Jahr Reha-Klinik und der Weg zurück in den Alltag
«Zu dieser Zeit konnte ich wieder alleine aufstehen. Daheim versuchte ich, im Freien herumzulaufen. Ich erinnere mich, dass draussen viel Schnee lag. Ich fiel hin und hatte das Gefühl, im Schnee zu ertrinken, weil ich mich nicht abstützen oder alleine aufrichten konnte. Nach den Feiertagen musste ich für ein Jahr zur Kur nach Affoltern am Albis, einer Aussenstation des Kinderspitals Zürich. Dort erhielt ich Fangopackungen, Physiotherapie und verschiedene Wassertherapien. Zudem bekam ich Hilfsmittel wie ein Korsett, Schienen und ein Gipsbett für die Nacht, in dem ich festgebunden wurde. Dieses Gipsbett musste ich später auch zu Hause verwenden. Während meines einjährigen Aufenthalts in der Klinik durfte ich kein einziges Mal nach Hause. Meine Geschwister konnte ich in dieser Zeit nicht sehen, nur meine Eltern kamen gelegentlich zu Besuch. In Affoltern erhielt ich schulische Förderung und durfte, als ich nach Hause zurückkehrte, die reguläre Schulklasse besuchen. Allerdings musste ich die Klasse wiederholen. Mir fiel das Gehen noch immer schwer und es wäre unmöglich gewesen, mittags von der Schule nach Hause und wieder zurückzulaufen. So kam es, dass ich bei der Hauswartin der Schule zu Mittag ass. Dort gab es oft Suppe oder eine andere einfache Mahlzeit. Im Winter durfte ich in der ‹Suppi› der Schule essen.»
Mein Leben und die Folgen der Kinderlähmung
«In der Klasse hatte ich keinen normalen Stuhl an meiner Schulbank, sondern ein spezielles Liegebrett, auf dem ich in einem 45-Grad-Winkel liegen musste, damit mein Rücken möglichst gerade blieb. Das war eine echte Attraktion für meine Mitschüler, die alle einmal auf meinem Liegebrett liegen und es ausprobieren wollten. Mein Klassenlehrer, Herr Kernen, unterstützte mich, wo immer es möglich war. Vom Turnunterricht war ich befreit und nutzte die Zeit, um Hausaufgaben zu machen oder mich anderweitig zu beschäftigen. Wenn auf dem Pausenhof Fussball gespielt wurde, schaute ich oft zu. Trotzdem fühlte ich mich immer gut integriert. Mein Gipsbett musste ich über viele Jahre hinweg zu Hause weiter nutzen und erneuern, da ich noch im Wachstum war. Während meiner Schulzeit besuchte ich abends die Physiotherapie. Bis zu meinem 17. Lebensjahr verbrachte ich jeden Sommer vier Wochen während der Schulferien in der Kur in Bad Ragaz. Die Abschiede daheim fielen mir nicht immer leicht, aber ich hatte mich daran gewöhnt, da es für mich zur Normalität geworden war. In der Reha knüpfte ich viele Freundschaften und wir trafen uns alle Jahre wieder. Mit der Zeit wurde mir klar, dass ich zu denjenigen gehörte, die die Krankheit glimpflich getroffen hatte. Viele andere hatten weitaus schwerere Verläufe. Ich sass nie im Rollstuhl, und mein Gesundheitszustand verbesserte sich im Laufe der Jahre kontinuierlich. Trotzdem sind einige Einschränkungen geblieben. Meine Rückenmuskulatur ist immer noch schwach, was sich darin zeigt, dass ich meinen Arm nicht vollständig hochheben kann. Von meiner Bauchmuskulatur ist nur ein Muskel gut ausgebildet, und das wird sich auch nicht mehr ändern. Dafür kann ich heute fast wieder normal gehen. Das eine Bein ist etwa anderthalb Zentimeter kürzer, deshalb achte ich darauf, dass mein Schuh eine entsprechende Erhöhung hat, oder ich die Einlagen trage. Das tut meinem Rücken gut.»
Wie ich meine Ziele trotz Herausforderungen erreichte
«Als ich das Aufgebot für den Militärdienst erhielt, war mir sofort klar, dass ich nicht zu denjenigen gehören wollte, die aufgrund körperlicher Einschränkungen Hilfsdienst leisten mussten. Bei der Musterung wurde mir mitgeteilt, dass meine körperlichen Leistungen im Turnen nicht besonders beeindruckend waren. Ich zeigte meine Röntgenbilder und erklärte, warum das so ist. Zudem wies ich darauf hin, dass das Militär sicherlich Fahrer benötigte. Schliesslich wurde ich als Fahrer in Kloten eingeteilt, was mir ermöglichte, die Rekrutenschule regulär zu absolvieren. Meine Lehre als Elektromonteur schloss ich erfolgreich ab und bildete mich weiter im technischen Bereich sowie in Sprachen. Ich begann bei der Firma Hildebrandt in Aadorf im Elektrobereich zu arbeiten und legte dort meine Meisterprüfung ab. Beruflich war ich viel im Ausland unterwegs. Mit 30 Jahren baute ich ein Haus und gründete eine Familie. Für 20 Jahre betreuten wir zudem einen Pflegejungen». Auf meine Frage, wie ihn das Erlebte geprägt hat, antwortet Pulfer: «Die Krankheit hat mich so geprägt, dass ich heute mehr Verständnis für Menschen habe, die ebenfalls krank sind oder andere Probleme haben. Zudem sollte man immer ein Ziel vor Augen haben. Wenn man etwas wirklich will, kann man viel erreichen. Auch wenn ich meine Krankheit nicht vollständig beeinflussen konnte, hat mir die positive Einstellung sehr geholfen. Mein Vater sagte immer zu mir: Du wirst wieder laufen! Diese Worte haben sich tief in meinem Gedächtnis eingeprägt. Die innere Einstellung ist enorm wichtig. Ich bin mit mir und allem, was ich in meinem Leben erreicht habe, sehr zufrieden.»
VANESSA SACCHET