Vanessa Sacchet im Gespräch mit Liliane Sahraoui
01.02.2025 Leute aus der Region, AadorfLiliane Sahraoui, geborene Sacchet, kam am 8. Juli 1945 zur Welt. Sie ist meine Tante. Ihr Bruder Silvano, Jahrgang 1948, ist mein Vater, und ihr jüngerer Bruder Franco, Jahrgang 1950, mein Onkel. Alle drei Geschwister kamen bei Hausgeburten im Restaurant Löwen in Aadorf zur Welt, das ...
Liliane Sahraoui, geborene Sacchet, kam am 8. Juli 1945 zur Welt. Sie ist meine Tante. Ihr Bruder Silvano, Jahrgang 1948, ist mein Vater, und ihr jüngerer Bruder Franco, Jahrgang 1950, mein Onkel. Alle drei Geschwister kamen bei Hausgeburten im Restaurant Löwen in Aadorf zur Welt, das damals «Ristorante Italiano» hiess. Von 1934 bis 1952 bot es drei Generationen Norditalienern ein Zuhause. Meine Tante teilt ihre Erinnerungen an diese Zeit und erzählt von ihrem Leben und den Momenten ihrer Kindheit.
«Das ‹Ristorante Italiano› gehörte Zieta, meiner Tante aus St. Gallen. Dort lebten meine Urgrossmutter, ‹Bisnonna› Catarina Menegaz, und mein Urgrossvater, ‹Bisnonno› Luigi Costantini. Luigi, ein leidenschaftlicher Opernliebhaber, besass eine wertvolle Plattensammlung, die er seiner Frau Catarina hinterliess, als er sich krankheitsbedingt in sein geliebtes Heimatland Italien zurückzog. Er wollte nicht in der Schweiz sterben. Für die Familie, die ihn auf seinem letzten Weg begleiten wollte, stellte der kurz vor dem Krieg streng bewachte Grenzübertritt eine grosse Herausforderung dar. Meine Grosseltern, Anita Costantini und Francesco Sacchet, führten das Ristorante. Auch ihre beiden Söhne, Italo und Ivo, lebten mit ihren Ehefrauen dort. Das Gebäude war grosszügig gestaltet und beherbergte zahlreiche Gästezimmer, zwei grosse Säle und eine gut ausgestattete Küche, in der meine Nonna und meine Bisnonna den Grossteil des Tages verbrachten. Sie hatten eine besondere Freude daran, junge italienische Saisonarbeiter, die Gäste und vor allem la Famiglia mit köstlichen Speisen zu verwöhnen. Das ‹Ristorante Italiano› war bekannt für seine feinen, frisch zubereiteten italienischen und französischen Spezialitäten. Die schlichte Gaststube mit langen Holztischen und geschwungenen Wiener Stühlen war ein beliebter Treffpunkt, besonders in einer Zeit, in der viele Internierte in der Gegend stationiert waren. Im Keller des Restaurants hatten sie die Möglichkeit, ihre eigenen Mahlzeiten zuzubereiten. Bei der Arbeit im Ristorante halfen die vielen jungen Saisonarbeiter tatkräftig mit. Meine Nonna verwöhnte sie alle und schuf eine warme, familiäre Atmosphäre. Hier wurden sie nicht ausgenutzt, sondern mit Respekt behandelt, akzeptiert und geschätzt – sie fühlten sich wie zu Hause. Es gab zwei sehr nette Festangestellte. Eine davon war Anselmina. Sie hat später in Le Prese ein Hotel mit ihrem Mann eröffnet. Sie blieben bis zu ihrem Tod wie Verwandte für uns. Meine Mutter hat auswärts im Büro gearbeitet, und mein Vater war gelernter Coiffeur. Später absolvierte er eine vierjährige Lehre als technischer Zeichner und arbeitete ebenfalls im Büro der Firma Griesser. Beide halfen nur am Feierabend im Restaurant aus.»
Mein Nonno Francesco war Stein- und Bildhauer
«Hinter dem ‹Ristorante Italiano› legte mein Nonno einen wunderschönen Garten für seine Frau Anita an. Zwischen romantischen Statuen und einer kunstvollen Mauer pflanzte sie nicht nur Salat und Gemüse, sondern auch italienische Kräuter wie Basilikum, Origano und Salbei, die damals in der Schweiz noch unbekannt waren. Meine Nonna verwendete sie in der Küche für ihre köstlichen Gerichte, die sie mit viel Liebe für die Gäste zubereitete. Der Garten lockte mit feinen Düften. Manche Bauern hielten ihn für einen ‹Hexengarten› und sahen in uns Italienern eine fremde Kultur. Bezeichnungen wie ‹Tschinggen› oder ‹fremde Fötzel› waren keine Seltenheit. Doch es gab auch Schweizer Gourmets, die von weit her kamen und sich im Ristorante überraschen liessen. Das Essen war frisch und authentisch. Für das schweizerische Aadorf waren unsere Spezialitäten eine exotische Abwechslung. Besonders stolz war meine Nonna auf ihre hausgemachte Pasta. In den grossen Sälen des Restaurants hängte sie die Spaghetti zum Trocknen an Leinen auf, und alle Holztische waren mit den frisch zubereiteten Tortellini bedeckt. Am Wochenende wurde das ‹Ristorante Italiano› zu einem Treffpunkt für Jung und Alt. Samstags und sonntags fanden Tanzabende mit Live-Musik statt. Das ‹Italo-Orchester› bestand aus meinem Nonno, der Mandoline spielte, meinem Papi Italo, der Geige und Gitarre spielte, und meinem Onkel Ivo am Klavier. Ein junger, lustiger Schweizer, er hiess Herr Hösli, sass am Schlagzeug. Es wurde Tango, Walzer und Mazurka gespielt – kein Humptata-Ländler-Rhythmus. Seine Schwestern kamen unerlaubterweise ebenfalls zum Tanzen; sie waren noch sehr jung. Eine der Schwestern hat später sogar einen Italiener geheiratet. Es wurde auch viel gejasst, la Mora gespielt, öfter auch Lotto, und bei schönem Wetter Boccia. So kam Leben in dieses Bauerndorf.»
Der Samichlaus, mein Bruder und das grosse Geheimnis
«Jedes Mal vor Weihnachten kam der Samichlaus bei uns vorbei. Ich war gerade sechs, Silvano drei und Franco noch ein Säugling. Da Silvano ein grosser Schreihals und Teubeli war, beschlossen meine Eltern, mit dem Samichlaus Silvano die Leviten zu lesen. Der Chlaus sagte zu Silvano: ‹Ich nehme dich im Sack mit in den Wald, bis du aufhörst zu schreien.› Ich wurde wütend darüber und meinte zu Silvano, der zitterte: ‹Ich komme mit dem Sackmesser, schneide den Sack im Wald auf, und es ist für uns überhaupt kein Problem, den Heimweg zu finden.› Einmal, ich war gerade im Restaurant und schaute den Gästen zu, da stellte ich plötzlich fest, dass ein Stammgast, Herr Gerber, die gleiche Stimme, die gleichen Hände und die gleichen Schuhe wie der Samichlaus hatte. Nur der Bart fehlte. Ich rief Silvano und brüllte laut im Restaurant: ‹Das ist ja der böse Samichlaus!› Herr Gerber fühlte sich verraten, und meine Mutter nahm mich verärgert bei der Hand. Da waren doch noch andere Kinder im Restaurant, die an den Samichlaus glaubten. Ich musste meinen Eltern versprechen, dass ich meinen kleinen Geschwistern weder das Geheimnis vom Samichlaus noch vom Christkind verrate. Ich hielt mein Wort – ich wollte nicht riskieren, dass wir keine Geschenke mehr bekommen würden.»
Der traurige Abschied vom Ristorante
«Ich war gerade am Ende der zweiten Klasse und Silvano im Vorkindergarten, als der Beschluss gefasst wurde, das Gasthaus zu verkaufen. Niemand der jüngeren Generation wollte das Restaurant weiterführen, alle waren anderweitig beschäftigt. Mein Mami hatte nie gerne im Service gearbeitet, und auch mein Vater war damit einverstanden, dass Zieta verkaufte. Zieta fand, dass Nonna und Bisnonna genug gearbeitet hätten und noch einige schöne, ruhige Jahre mit ihr in St. Gallen verbringen sollten. Von den beiden weiss ich, dass sie das gar nicht wollten. Sie waren mit dem Dorf, dem Ristorante und den Gästen tief verwurzelt, und es schmerzte sie unsagbar, plötzlich ihre Freiheit aufzugeben und von Zieta abhängig zu werden. Ich sah, wie auch unsere Gäste, die ebenfalls zur Familie gehörten mit den Tränen kämpften über den Verlust. Für sie war das ‹Ristorante Italiano› wie eine zweite Heimat, und die Nonni waren wie Eltern. So zogen meine Nonna und meine Bisnonna zu Zieta nach St. Gallen – mit vielen Tränen und unsagbarem Heimweh nach ihrem Bauerndorf, wo sie eine wunderschöne Zeit verbracht hatten. Zieta, meine vornehme Tante, besass in St. Gallen ein grosses Haus, mitten in der Stadt. Sie vermietete Wohnungen und Zimmer, half überall mit und erhielt von der Stadt St. Gallen das Wirtepatent geschenkt. Sie führte verschiedene Cafés und Restaurants, half am Märt aus und betrieb damals zusammen mit dem Besitzer das feine ‹Restaurant Baratella›, das noch heute unter diesem Namen existiert. Meine Eltern kauften nur einen Steinwurf vom Restaurant entfernt das kleine Einfamilienhäuschen bei der Brücke an der Lützelmurg. Früher war es eine Stickerei, später ein Zollamt. Deshalb führte die Grenze zwischen dem Kanton Thurgau und Zürich mitten durchs Haus. Ich ass also im Kanton Thurgau und schlief im Kanton Zürich. Später liess mein Vater den Grenzstein zugunsten des Kantons Thurgau versetzen. Er steckte seine ganze Freizeit in dieses Haus, das zu Beginn ohne Heizung, Warmwasser oder anderen Komfort war. Ich konnte mich trotz des Trennungsschmerzes vom Ristorante, den ich erlitten hatte, bald an mein neues Zuhause gewöhnen. Unser Vater bastelte viel mit uns und half uns bei den Schulaufgaben. Er war ein strenger, aber sehr feiner, liebevoller Mensch. Mein Mami nähte und strickte uns in ihrer Freizeit viele schöne Kleider. Weiterhin spielte meine Zieta eine wichtige Rolle im Familienleben, indem sie mir in St. Gallen klassischen Ballettunterricht ermöglichte. So weckte sie früh meine Liebe zur Musik und zum Tanz. Das ‹Ristorante Italiano› wurde von Schweizern übernommen und unter dem Namen ‹Restaurant Löwen› weitergeführt. Es war nicht immer einfach für uns Italiener in diesem Dorf. Obwohl wir als zweite Generation hier geboren wurden, wurden wir oft in der Schule gehänselt.Ich bin jedoch dankbar, dass ich in einer kulturellen, feinen, gut gebildeten und anständigen Verwandtschaft aufwachsen durfte.»
VANESSA SACCHET
Weitere Impressionen vom «Ristorante Italiano» auf Seite 4.