Der Federdirigent… schreibt sich augenzwinkernd von der Seele, was er nicht für sich behalten kann.
28.06.2025 KolumneErtappt
Ich sitze auf unserem Garten-Sitzplatz vor dem Wohnzimmer und habe einen Auftrag. Unsere Enkelin ist zu Besuch. Da meine Liebste gerade in der Küche wieder Ordnung schafft nach dem Mittagessen, bin ich als Aufpasser für Lynn da, schlürfe meinen ...
Ertappt
Ich sitze auf unserem Garten-Sitzplatz vor dem Wohnzimmer und habe einen Auftrag. Unsere Enkelin ist zu Besuch. Da meine Liebste gerade in der Küche wieder Ordnung schafft nach dem Mittagessen, bin ich als Aufpasser für Lynn da, schlürfe meinen Kaffee und geniesse das Energiebündel, das die Welt in jedem Moment erkundet und immer wieder Neues entdeckt und mit mir teilen möchte.
Sie ist ein Wirbelwind, ein herrlicher Tornado, der mich auf Trab hält. Soeben noch mit ein paar kleinen, farbigen Steinen beschäftigt, die sie neben dem Weiher entdeckt hat, ist ihr Interesse nun vom Gebell des Nachbarhundes geweckt. Sie schaut in Richtung des Gekläffs und sagt: «Und wauwau!» «Jo genau, Lynn, das isch en Hund, wo bellet!», bestätige ich. Sie wiederholt: «Und bellet.» Sagt’s und verschwindet im Wintergarten, um gleich darauf mit dem Strassenkreide-Kübel bewaffnet aufzutauchen. «Gosspapi moole!» Sie packt den Zeigfinger meiner linken Hand und zieht in Richtung Garten. Ich kann mit Mühe und Not den rechten Zeigfinger aus dem Tassenhenkel befreien, um so eine grosse «Kafischwappete» zu verhindern.
«Gosspapi Lynn moole!» Ihr Charme ist unwiderstehlich. Ich kann nicht anders, als dem Befehl nachzukommen und statt mich zu ärgern, mich zu freuen. Sie bestimmt eine der vielen Gartenplatten als Leinwand und versucht eine Kreide aus dem Kübel zu klauben. Ich setze mich neben sie ins Gras und muss ihr dabei helfen. Als ich ihr schliesslich eine Kreide hinstrecke, sagt sie empört: «Nei, Gosspapi Lynn mole!»
Ich male ein lächelndes Gesicht mit viel zu grossen Ohren, zu wenig Haaren und Sommersprossen, die sie gar nicht hat, und schreibe darunter «Lynn». Ein zufriedenes Grinsen ernte ich als Lohn für meine bescheidenen Zeichenkünste. Ach, wenn es doch immer so einfach wäre. Jetzt gebe ich ihr die Kreide. «Mool doch uf diä ander Steiplatte au d‘Lynn! Das chasch du sicher grad so guet!» Es nützt. Sie versucht es, während ich mich wieder in den Stuhl zurückstehlen kann.
Kaum meinen Hintern im Stuhlkissen platziert und den letzten Schluck kalten Kaffee getrunken, sehe ich Lynn schon wieder davonzotteln. Sie hat den Ball entdeckt, mit dem wir letzte Woche gespielt haben, nimmt ihn auf und sagt: «Gosspapi Balle spiele!» «Also bring en do ane!» Sie läuft zu mir, bleibt aber unvermittelt stehen, zeigt mit dem Finger auf mich und sagt, beinahe entrüstet: «Lüge nöd ineloh!»
Ich stutze. Was hat sie gerade gesagt? Das Gefühl einer Mischung aus Ertapptsein und Stolz beschleicht mich. Ertappt, weil ich in ihrer Gegenwart wohl auch schon zu einer kleinen Notlüge gegriffen habe, um sie zu etwas zu bewegen, was sie sonst nicht gemacht hätte. Hat sie das realisiert und will nun «Gosspapi» auf den rechten Weg bringen? Hoppla! Stolz fühle ich mich, weil ich realisiere, was für ein kluges Mädchen sie mit ihren zweieinhalb Jahren schon ist, dass sie so ein komplexes Thema formulieren kann. Hut ab! Von wem sie das nur hat?
Als ich auf ihre Aussage hin nicht reagiere, macht sie noch ein paar Schritte auf mich zu und zeigt diesmal an mir vorbei und wiederholt: «Lügegitter zuemache! Lüge nöd ineloh!» Da zerbröselt mein Stolz wie ein viel zu altes Petit Beurre.
Mir wird klar, was sie gemeint hat. Am Wohnzimmerfenster haben wir ein Fliegengitter angebracht, das wir im Sommer möglichst geschlossen halten. Lynn wurde kürzlich erklärt, wofür dieses gebraucht wird. Das Fliegengitter war heute offen. Und offenbar habe ich die F’s in diesem Satz überhört. Mein Tinitus hat ganze Arbeit geleistet. «Flügegitter zuemache! Flüge nöd ineloh!» Das wollte sie mir mitteilen.
Ich springe auf, ziehe das Gitter runter und will den bestätigenden Blick meines kleinen Taifuns erhaschen, höre Lynn aber nur noch rufen: «Lug Gosspapi, Rössli!» während sie schon zum Gartenzaun stürmt. In 100 Meter Entfernung hat sie die Gäuler entdeckt.
«Joo, ich chume jo cho luege, Lynn!» Puuh, ist das anstrengend! Trotzdem habe ich selten stürmische Zeiten so genossen.
STEFAN WANZENRIED
federdirigent.ch