Am Äquator fällt die Dämmerung weg. Der Tag dauert zwölf Stunden, dann wird es ohne Übergang Nacht. Das ist mit ein Grund, warum ich niemals am Äquator leben möchte. Ich liebe die Dämmerung. Die Morgendämmerung noch fast mehr als die ...
Am Äquator fällt die Dämmerung weg. Der Tag dauert zwölf Stunden, dann wird es ohne Übergang Nacht. Das ist mit ein Grund, warum ich niemals am Äquator leben möchte. Ich liebe die Dämmerung. Die Morgendämmerung noch fast mehr als die Abenddämmerung. Am Morgen wird es langsam heller, ein neuer Tag erwartet mich. Auch die Abenddämmerung ist in Ordnung, es dunkelt sachte, das Licht wird sanft eingehüllt.
Je nach Jahreszeit tritt die Dämmerung früher oder später ein. Ich mag den Grauschleier, der das Gleissende, Grelle dämpft. Fantasiegestalten haben nun ihren Auftritt. Die alte Eiche verwandelt sich in einen Greis, die Talsenke gleicht einem ausgespannten, frisch gebügelten Leintuch, auf dem Traumfiguren Pirouetten drehen oder Ränke schmieden. Von Viertelstunde zu Viertelstunde verändert sich der Lichteinfall – die Szenerie ein Wechselspiel mit immer wieder neuer Dramaturgie.
Wer sich einlässt auf die Dämmerung erfährt, dass dann die Welt ein kleines bisschen stillsteht, uns den Blick frei gibt auf Jenseitiges, Unerklärliches. In der Dämmerung verschwimmen die Umrisse. Was soeben noch klar vor Augen stand, verliert an Kontur. Am Äquator sind die Regeln übersichtlich. Es ist hell oder dunkel, je nach Uhrzeit, keine Zwischentöne. Zwölf Stunden hell, zwölf Stunden dunkel, in stetem Wechsel. Ich traue allzu Hellem und allzu Dunklem nicht; ich mag Zwischentöne, die sich nicht einordnen lassen, die mir den Zugang zu einer Welt verschaffen, in der ich immer wieder neue Formationen entdecke, in der das Entweder-oder durch neblige Lichtschleier aufgelöst wird. Mir dämmerts, wenn es dämmert.
BRIGITTA GERIG-WILDERMUTH