Zwölf Punkte für Basel
03.06.2025 ElggHöchstwahrscheinlich erlebe ich nur einmal ein 111-jähriges Aeschli-Jubiläum in meinem Heimatort. Gleiches kann ich aber auch von einem Eurovision Song Contest in meinem Heimatland sagen. Wer weiss, ob und wann dieser nochmals in der Schweiz stattfinden wird? Also bin ich ...
Höchstwahrscheinlich erlebe ich nur einmal ein 111-jähriges Aeschli-Jubiläum in meinem Heimatort. Gleiches kann ich aber auch von einem Eurovision Song Contest in meinem Heimatland sagen. Wer weiss, ob und wann dieser nochmals in der Schweiz stattfinden wird? Also bin ich nach dem Aeschli gleich weiter gebraust nach Basel, wo der diesjährige ESC vom 10. bis zum 17. Mai stattfand.
Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als die gebürtige Kanadierin Céline Dion für die Schweiz den Eurovision Song Contest gewann – 1988 in Dublin mit ihrem Lied «Ne partez pas sans moi». Damals war ich zehn Jahre alt und habe den Musikwettbewerb zusammen mit meiner Mutter geschaut. Wir sassen zusammen, in mehrere Decken gehüllt, auf dem Parkettboden meiner Schwester in ihrer Basler Wohnung, in die sie gerade erst gezogen war, und starrten Minuten vor der Verkündigung der letzten Punkte gebannt auf den kleinen Röhrenfernseher. Bis dahin lag noch der englische Künstler vorne, der sich schon anschickte, seinen Sieg zu feiern. Doch dann gewann völlig überraschend noch die Schweiz, mit nur einem Punkt Unterschied. Wir sprangen beide auf und freuten uns mit einer völlig aufgelösten 20-jährigen Dion in ihrem seltsamen Tüllrock.
Seitdem hat sich viel getan am Eurovision Song Contest – die Lieder sind von den traditionellen Chanson-Melodien weg und viel moderner geworden und auch das Publikum hat sich sehr gewandelt. Wer sich noch an den erwähnten Céline Dion-Auftritt erinnert, weiss vielleicht auch noch, dass damals alle brav in Abendgarderobe – die Männer im Smoking, die Frauen im schwarzen Kleid – auf ihren Stühlen sassen. Heute ist der Anlass vielfarbig, ausgelassen und offen für alle, der Anteil der queeren Fans in der ESC-Gemeinschaft ist gross und niemanden hält es lange auf den Sitzen. Mit unzähligen Länderfahnen, T-Shirts, selbstgebastelten Plakaten und einer unbändigen Freude im Gepäck zelebriert die wachsende ESC-Gemeinschaft ihr Musik-Highlight des Jahres mit grosser Passion.
Schwitzen vor der Bühne
Für mich, die das erste Mal live an einem Eurovision Song Contest dabei war, gab es deshalb gar nicht genug zu sehen. Schon beim ersten Halbfinale, das ich in der St. Jakobshalle in Basel erleben durfte, kam ich mir deshalb vor, wie Charlie Bucket aus Roald Dahls Kinderbuch-Klassiker «Charlie und die Schokoladenfabrik». Staunend schritt ich durch all die Glitzermenschen oder sonst wie auffällig geschminkten und gekleideten Fans und musste vor der grandios beleuchteten Bühne einen Moment lang ehrfürchtig innehalten, nur um dann wie eine Touristin – über die ich mich sonst immer aufrege – alle diese Momente mit dem Handy festzuhalten.
Es war aber auch wirklich spektakulär, was hier an Lichtshow, Video-Effekten, Tanzeinlagen, Nebelbläsern, Windmaschinen und allseits beliebter Pyrotechnik geboten wurde. Am eigenen Leib gespürt habe ich davon vor allem die Feuerfontänen bei gefühlt mindestens vierzehn der insgesamt fünfzehn Auftritte des ersten Halbfinales. Ich habe direkt vor der Bühne Position bezogen. Unter dem vierseitigen Rahmen, der die vier Landessprachen der Schweiz symbolisierte. Dort wurde es dann ziemlich heiss. Die meiste Zeit freute ich mich aber über diesen Stehplatz, denn ich stand tatsächlich unmittelbar dort, wo die Acts nach ihren Auftritten die Treppe herunterkamen, um durch den Tunnelgang zum «Green Room» – dem offen einsehbaren Aufenthaltsraum der Künstler – zu gelangen. Vor lauter Winken, Klatschen und Knipsen kam ich also auch ohne Feuersbrunst ins Schwitzen.
Schweiz gelungen persifliert
Einen Lieblingsmoment dieses ersten Halbfinales könnte ich gar nicht benennen. Ich war schon von dem Eröffnungsauftritt begeistert – einer Tanzperformance samt modern klingender Volksmusik, von dem wechselnden Farbenspiel, das die Bühne in ein Meer aus Kolorationen tauchte. Besonders die ausgelassene Stimmung war ansteckend. Es wurden Fahnen geschwenkt, bis die Hände abfielen. Direkt hinter mir hatten sich zwei Schwedinnen postiert, die bei der schwedischen Band KAJ und ihrem Lied «Bara bada bastu» nicht mehr zu halten waren und dabei sicherlich die längsten Schreie an einem Stück erzeugten, die ich bis dahin gehört hatte.
In der Halbzeitpause, während des Wartens auf die Punktevergabe, tobte dann nochmals die Halle beim Auftritt der beiden Moderatorinnen Sandra Studer und Hazel Brugger, die sich in dem von ihnen interpretierten Song «Made in Switzerland» selbstironisch über Schweizer Klischees lustig machten, samt Heidi und Taschenmesser-Teleshopping-Einlage. Als sie dann auch noch die schwedische Komikerin und mehrmalige ESC-Moderatorin Petra Mede als Wilhelm Tell aus dem Hut zauberten, sagte die Schweiz auf diese Weise nochmals danke für die letztjährige Austragung des Musikspektakels in Malmö, wo bekannterweise Nemo am Ende siegreich war und erstmal unbeabsichtigt die Trophäe zertrümmerte. Zudem ist der Song auch eine augenzwinkernde Anlehnung an Medes Nummer «Swedish Smörgåsbord» aus dem ESC-Finale von 2013, die aber wohl nur die beiden schon erwähnten Fans hinter mir verstanden – denn der Kreischpegel schnellte wieder in die Höhe.
Emotionale Videobotschaft
Das zweite Halbfinale war nochmals spektakulärer für mich. Diesmal stand ich wieder direkt an der Bühne, jedoch seitlich. Genau dort, wo die Gruppen alle auf die Bühne kamen. Und nicht nur das war eine einmalige Erfahrung, weil ich dadurch die Künstler noch einmal anders erleben konnte – mitunter nervös und angespannt vor ihren Auftritten. Beeindruckt war ich aber auch von diesem besonderen «Blick hinter die Kulissen», zu sehen, wie die Stage Crew in Sekundenschnelle die einzelnen, teils sehr aufwendigen Kulissen für die jeweiligen Acts auf- und wieder abgebaut hat – ohne dass irgendetwas dabei schiefgelaufen wäre.
Der emotionalste Augenblick dieser beiden Shows ist für mich schnell gefunden: Die Videobotschaft von Céline Dion, die ihr Bedauern darüber ausdrückte, aufgrund ihrer Krankheit (Stiff-Person-Syndrom) nicht vor Ort sein zu können. Nicht nur, weil sie 1988 für die Schweiz gewann, sondern auch, weil hier in der Schweiz alles begann. Schliesslich fand der erste Eurovision Song Contest, noch unter dem viel zu langen und inzwischen auch überholten Namen «Grand Prix Eurovision de la Chanson» 1956 in Lugano statt. Damals wurde die Schweizerin Lys Assia mit ihrem Song «Refrain» die erste Gewinnerin des Wettbewerbs.
Verdienter österreichischer Sieger
Mein einziges persönliches Interview hatte ich übrigens mit dem späteren Gewinner JJ – am Botschaftsempfang der beiden Länder Deutschland und Österreich. Dort lief dieser mit einem Schild um den Hals herum. Darauf stand, dass ihm seine Mentorin Conchita Wurst (ESC-Gewinnerin für Österreich 2014) geraten habe, seine Stimme zu schonen und nichts mehr zu sagen. Doch ich versuchte trotzdem mein Glück und bekam meine Antworten, allesamt geschrieben auf seinem Handy. Meine erste Konversation dieser Art. Persönlich finde ich JJ einen verdienten ESC-Gewinner. Der 24-jährige österreichische Countertenor hat mich mit seiner einzigartigen Stimme und seinem bescheidenen Auftreten – auch an den Anlässen abseits der Shows – überzeugt.
Mit seinem Sieg ging eine tolle ESC-Woche zu Ende. Reich an fulminanten Shows und noch besseren Pausenfüllern sowie einem souverän-unterhaltsamen Powerfrauen-Moderationsduo. Die Stimmung war in der Halle, während der Proben und Shows so lebhaft und harmonisch, dass ich mich in keiner Sekunde nicht als Teil dieser grossen Familie gefühlt habe, in der letztendlich alle sein konnten, wie sie sind. Völlig fremde Leute sind sich um den Hals gefallen, haben die tollen Kostüme der anderen gelobt oder sich gegenseitig zum Finaleinzug ihrer Länder gratuliert. Andere haben sich gefreut, einander wiederzusehen, weil sie sich schon aus früheren ESC-Jahren kannten. Und ja, es gab Stimmung gegen den israelischen Beitrag, aber genauso gab es Unterstützung für die Interpretin Yuval Raphael. Während des ersten Halbfinales etwa wurde direkt neben einer israelischen Fahne eine palästinensische im Publikum geschwenkt – friedlich.
ABBA-Lieder in der Einkaufsstrasse
Die gute Stimmung wurde auch an die Partys wie dem «EuroClub» im Eurovillage auf dem Messegelände mitgenommen. Das bunte Musik-Völkchen sang Karaoke und tanzte bis in die Morgenstunden zur Eurovision-Musik aus den letzten 68 Jahren ESC-Geschichte und zu Auftritten von ehemaligen Stars des Events. Das Eurovillage selbst war mit seinen Gesprächsrunden und Live-Konzerten, mit Gästen wie Conchita Wurst oder Michael Schulte, unter der Woche zwar eher mässig besucht, wurde dann aber am Final-Samstag brechend voll. Zuvor performte Nemo am Donnerstagnachmittag mit Hoodie und Pelzmütze auf dem Kopf überraschend vor der SRF3-Glasbox im Eurovillage seinen Song «The Code», was die Passantinnen und Passanten scharenweise anzog. Gleiches tat auch das Public Viewing im Fussballstadion St.-Jakob-Park (kurz «Joggeli» genannt) – hier erlebten rund 36’000 Fans die Pre-Show und das Finale mit. An diversen Dachpartys in Basel wurde JJ’s Sieg ebenfalls bis in die frühen Morgenstunden gefeiert.
Im kleineren Rahmen konnten ESC-Fans auch in der Basler Innenstadt gespottet werden. Neben der Open-Air-Bühne auf dem Barfüsserplatz boten unzählige Bars, Clubs, Museen, Kinos und Kirchen ebenfalls Public Viewings an. Einen Überblick darüber hatte zwar niemand, aber man begegnete dafür quasi an jeder Ecke Gleichgesinnten. Eine ganze Strasse – die Steinenvorstadt – wurde zur Eurovision Street umgewandelt. Doch auch andere Gassen von Basel waren mit ESC-Fahnen geschmückt, und jedes noch so kleine Geschäft wurde mit einer Fotowand bestückt. Vor dem kleinsten Migros kam es so schon mal zu spontanen Gesangseinlagen von Fans, die zusammen ABBA-Lieder sangen, was von den Baslerinnen und Baslern mit viel Applaus belohnt wurde. Die Schweiz konnte sich in Basel als Gastgeberin eines Grossevents von ihrer besten Seite zeigen – offen, herzlich, perfekt organisiert, lustig und sympathisch-schräg.
Das erste Mal einen meiner Lieblingsevents live in meinem Heimatland mitzuerleben, war ein ganz spezielles Ereignis für mich – und auch ein persönlicher Abschied. Der ESC war immer etwas, das meine Mutter und mich verband. Wir schauten ihn uns jährlich zusammen an. Dass Nemo im letzten Jahr die Trophäe nach 36 Jahren abermals in die Schweiz holte, erlebte sie leider nicht mehr. Aber sie war in Gedanken bei mir, und ich habe mir dabei vorgestellt, wie sie getanzt hätte.
SARAH STUTTE