Wurstessen zur Fastenzeit – Protest gegen Bevormundung

  05.04.2022 Elgg

Der Umbruch vor 500 Jahren beginnt in Deutschland und der Schweiz verschieden. Die Reformation in Deutschland startet mit einem lauten Thesenanschlag gegen den Ablass, das käufliche Heil. Die Reformation in der Schweiz dagegen mit einem vergnüglichen Essen am Tisch.

So trifft man sich sowohl in Zürich als auch in Elgg zum Wurstessen aus Protest gegen die Bevormundung. In Zürich lädt zur Fastenzeit der Buchdrucker Christoph Froschauer zu Fasnachtsküchlein ein. Acht von seinen Gästen sind namentlich bekannt geblieben. Handwerker, wie der bald als Wiedertäufer und Scharfmacher agierende Weber Lorenz Hochrütener aus St.Gallen. Er wird durch spektakuläre Aktionen auffallen. Er wird mit dem Schreiner Wolf Inniger im Fraumünster das Ewige Licht demontieren und unter die Kanzel werfen; im November sich mit Klaus Hottinger an der Beseitigung des Wegkreuzes in Zürich-Stadelhofen beteiligen und schliesslich aus der Stadt verwiesen werden. Gäste sind auch die zwei Theologen Leo Jud, bald am St.Peter und Huldrych Zwingli vom Grossmünster.
Froschauer verteilt seinen Gästen verbotenerweise ausser den Fasnachtsküchlein auch noch zwei geräucherte Würste. Für jeden ein kleines Stück. Zwingli bleibt bei der Gesellschaft, isst jedoch von den Würsten nicht.
Beim Zürcher Rat stellt sich Froschauer vor seine Arbeiter, die übermässig beschäftigt seien und mit Mus allein nicht satt würden. In Wahrheit aber ist dieses Wurstessen eine Provokation gegenüber der Kirchenleitung in Konstanz und deren Gebot, in den Fastenzeiten kein Fleisch zu essen. Eindeutig ein Protest gegen die Bevormundung.
Zwei Wochen später macht Zwingli dieses verbotene Mahl zum Inhalt der Predigt. Ihr folgt seine erste reformatorische Schrift, mit einem nicht nach der kirchlichen Tradition, sondern einem nach dem Neuen Testament ausgerichteten Argumentarium zum Fastenbruch: «Vom Erkiesen und Fryheit der Spysen. Geben zuo Zürich im 1522 Iar am 16 Tag Aprell. Ob man Gwalt hab die Spysen zuo etlichen Zyten verbieten / Meynung Huldrichen Zuinglis.»

Freiheit zu essen oder zu fasten

Es erstaunt Zwingli eingangs, dass es in Zürich im vierten Jahr seines Wirkens überhaupt noch Ärgernis wegen der Fastenübertretung gibt. Nach den von ihm erläuterten neutestamentlichen Stellen folgert er: «Willst du gerne fasten, so tue es. Willst du gern kein Fleisch essen, so iss es nicht. Lass aber dem Christenmenschen die Freiheit. Bist du ein Müssiggänger, so sollst du viel fasten und die Speisen nicht geniessen (...) dem fleissigen Arbeiter (jedoch) vergeht der Übermut bei der Arbeit mit dem Karst, hinter dem Pflug, auf dem Feld.»
Aber die Traditionsgetreuen wollen die Fastenzeit weiterhin beachten. Mag das Neue Testament sie relativieren oder gar aufheben, das Alte Testament hält an ihr fest. Eine Fastenzeit nicht zu begehen, ist für sie Verletzung einer göttlichen Ordnung und nicht nur eines menschlichen Übereinkommens und eines kirchlichen Gebotes. Erstaunlich, Zwingli bemüht sich sehr um Befürworter des Fastens. Die christliche Liebe erfordere, seine Nächsten nicht zu ärgern. Aber die Worte Christi bleiben ihm massgebend: «Sollte ich denen, die sich auf die heilige Schrift, die ich immer gepredigt, verliessen, ihren Schirm rauben und widerrufen?»
Der Zürcher Rat verurteilt zunächst den Fastenbruch, wechselt aber zur folgenreichen Entscheidung, dass in der Fastenfrage nur noch gelten soll, was die Bibel sagt. Er entscheidet dabei als nicht zuständige weltliche Behörde und setzt die Zuständigkeit des Bischofs ausser Kraft. Der Rat übernimmt Zwinglis Schriftprinzip. Damit werden in Zürichs Herrschaftsbereich die bisherige kirchliche Tradition und Hierarchie aufgehoben.
Zwinglis Publikation «Vom Erkiesen und Fryheit der Spysen» macht den Fastenbruch für immer öffentlich. Das frühgedruckte Textfeld der in Zürich erhalten gebliebenen Schrift ist heute noch – vom Inhalt einmal abgesehen – eine Augenweide. Ein Qualitätsprodukt aus dem Hause Froschauer. Diese Schrift beginnt Zürich und bald auch die Ostschweiz zu verändern. Ein Ereignis folgt dem nächsten und eine Zwinglischrift der andern. Im westlichen Grenzgebiet des Thurgaus gibt es bereits erste Einfallstore der neuen Lehre: auf Burg-Stein am Rhein, in Ittingen und Tänikon. In der Gemeinen Herrschaft Thurgau jedoch hebt sich der strittige Umbruch ausserdem noch auf die eidgenössische Ebene.

Wer sich beim verbotenen Wurstessen in Elgg vergnügte

Auch in Elgg lässt man sich am Esstisch nieder. In Zürich findet das verbotene Mahl in der bekannten Druckereiwerkstatt statt. In Elgg im bekanntesten Gasthaus. In welchem? Es kommen dafür drei Gasthäuser infrage, auch Tavernen genannt: die «Krone», die «Meise» und der «Ochsen». Ausser Konkurrenz sind bei der Suche die Lokale der Zapfenwirte, die ja nur Wein ausschenken dürfen. Überliefert ist nur soviel, dass sich örtliche Räte im Gasthaus des angesehenen Hauptmanns Andreas Vogler treffen. Dieser Andreas Vogler ist um 1540 als Wirt der «Krone» bestätigt. Es ist daher anzunehmen, dass auch das Elgger Wurstessen von 1522 bei ihm stattgefunden hat. Erstmals wird Andreas Vogler im Steuerrodel von 1517 genannt. Er scheint damals begütert gewesen zu sein. Im Jahre 1531 (im Jahr des 2. Kappelerkrieges) zahlt er drei Pfund Kriegssteuer, einen der höchsten Beträge in Elgg. Andreas ist Hauptmann der Elgger im Kappelerkrieg.

Am Wirtshaustisch sitzt – ausser einigen Gemeinderäten – auch Kaplan Bartholomäus Brun, einer der fünf (!) Geistlichen in der kleinen Gemeinde mit der grossen Ortskirche und ihrer langen Fastentradition. Brun gehört im Jahre 1522 mit den in der «Krone» abwesenden Kaplänen Hans Benz, Jörg Markstein und Hans Offener und mit Dekan und Leutpriester Bernhard Meiss zu den heftigsten Gegnern der Reformation in Elgg. Aber an diesem Abend im Gasthaus geniesst Kaplan Brun die beinahe sich schon ökumenisch verstehende, gesellige Runde. Zu jener Anfangszeit der Reformation scheint es bei allen Gegensätzen dennoch auch ein Miteinander zu geben. Man beliebt, sich an denselben Wirtshaustisch zu setzen. Irgendwann tischt der Wirt feine Würste auf. Kaplan Brun jedoch widersteht der Versuchung vorerst. Aber am Tisch sitzen auch zwei reformierte, von Zwingli nach Elgg delegierte, Prädikanten: Heinrich Lüthi, Helfer am Grossmünster in Zürich und Georg Lüthi, Prädikant von Winterthur. Einem von ihnen gelingt die Verführung. Er macht den verunsicherten Bartholomäus Brun darauf aufmerksam, dass das Evangelium es keineswegs verbiete, zur Fastenzeit Bratwürste zu essen. Er kenne offensichtlich die heilige Schrift nicht. Und er könne ja die Bratwürste als Backfische ansehen. Fische gelten nicht als verbotene Fleischspeise. Nun mögen es seine innere Zustimmung, der gesellschaftliche Druck, die fröhliche Tafelrunde, der Duft der Bratwürste oder der funkelnde Wein gewesen sein: der Kaplan jedenfalls greift zu und isst! Das Gelächter ist übermässig, die Erheiterung grenzenlos, die Schadenfreude perfekt. Kaplan Brun packt die Reue. Und er verklagt den Verführer. Die Kunde vom erheiternden Wurstessen aber verbreitet sich wie ein Lauffeuer.
Während man vom Zürcher Mahl den Eindruck gewinnt, es sei trotzig und vielleicht auch etwas schelmisch abgelaufen, herrscht in der abendlichen Elgger Runde vor allem eine grosse Heiterkeit.

Nach den Wurstessen: zwei feindliche Lager

Die Reformation, die 1522 durch das Wurstessen in der Druckerei Froschauer in Zürich und in Elgg in der «Krone» angestossen ist, spaltet in den kommenden Jahren die Eidgenossenschaft in zwei Lager. Am 25. Juni 1529 konnte – nach einer Besetzung Kappels durch die Zürcher Hauptmacht – mit dem ersten Landfrieden (Kappeler Milchsuppe) ein Blutvergiessen noch verhindert werden. Am 9. Oktober 1531 jedoch erklären die fünf innern Orte den überraschten Zürchern den Krieg. Zwei Tage später werden diese bei Kappel vernichtend geschlagen, noch einmal am 23. Oktober bei Gubel. Huldrych Zwingli wird bei Kappel getötet und auch die Elgger erleiden ihren Blutzoll. Ihr Hauptmann Andreas Vogler kann sich auf den Albis retten.
Die beiden Wurstessen in Zürich und Elgg sowie Zwinglis Schrift: «Vom Erkiesen und Fryheit der Spysen» werfen keine hohen Wellen mehr. Der Blick auf diese Ereignisse vor exakt 500 Jahren und Zwinglis Publikation aber können immer noch berühren. Vor allem, wenn Interessierte über öffentliche wie persönliche Bevormundungen nachdenken und sich ihrer befreien wollen, weil sie die Freiheit in dieser oder anderer Form als wichtiges Gut ansehen.

MARKUS SCHÄR


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