«Wir sind definitiv an die Grenzen gestossen»
08.02.2024 HagenbuchDer Bund rechnet auch dieses Jahr mit einer unverändert hohen Zahl neuer Asylgesuche und Anträge für Status S. Der Kanton Zürich erhöht daher schon wieder die Aufnahmequote für die Gemeinden. Der Hagenbucher Sozialvorsteher Simon Heller zeigt sich ...
Der Bund rechnet auch dieses Jahr mit einer unverändert hohen Zahl neuer Asylgesuche und Anträge für Status S. Der Kanton Zürich erhöht daher schon wieder die Aufnahmequote für die Gemeinden. Der Hagenbucher Sozialvorsteher Simon Heller zeigt sich überrascht und enttäuscht von Kanton und Bund.
Die Lage im Asylbereich bleibt eine Herausforderung für Bund, Kantone und Gemeinden. Parallel zu einer hohen Zahl neuer Asylgesuche war die Schweiz im vergangenen Jahr unverändert mit den Folgen des bereits über zwei Jahre dauernden Krieges in der Ukraine konfrontiert. Die Auslastung der Unterbringungsstrukturen sei im Kanton Zürich deshalb sehr hoch, teilt die Sicherheitsdirektion mit.
Nachdem im vergangenen Jahr in der Schweiz rund 30’000 Asylgesuche eingingen, werde heuer allgemein mit einer vergleichbar hohen Zahl neuer Gesuche gerechnet. Der Kanton Zürich habe gemäss dem bevölkerungsproportionalen Verteilschlüssel 17,9 Prozent der asyl- und schutzsuchenden Personen aufzunehmen. Für die Gemeinden gilt seit letztem 1. Juni eine Aufnahmequote von 1,3 Prozent (13 Personen auf 1000 Einwohnerinnen und Einwohner). Nur ein gutes Jahr davor lag diese noch bei 0,9. Jetzt wird sie per 1. Juli auf 1,6 Prozent erhöht.
Um weiterhin über genügend Unterbringungsplätze zu verfügen, sei es laut Sicherheitsdirektion unumgänglich, auf die Hilfe der Gemeinden zurückzugreifen und die Aufnahmequote nochmals zu erhöhen. «Die Gemeinden machen einen hervorragenden Job. Dafür bin ich sehr dankbar und überzeugt, dass sie unsere Bemühungen weiter unterstützen werden», sagt Regierungspräsident Mario Fehr, «wir können die Herausforderungen nur gemeinsam bewältigen.»
Sozialvorsteher ist überrascht und enttäuscht
Was das für die Gemeinde bedeutet und was für Folgen dieser entscheid haben wird, darüber sprach diese Zeitung ausführlich mit Simon Heller, zuständiger Gemeinderat für Gesundheit und Soziales in Hagenbuch:
Simon Heller, von 0,9 auf 1,3 und nun sogar 1,6 Prozent per 1. Juli: Innert zwei Jahren muss die Gemeinde fast doppelt so viele Asylsuchende aufnehmen. Was ist Ihre Meinung dazu?
Ich bin überrascht und enttäuscht von Kanton und Bund. Insbesondere die Kommunikation war erneut sehr schlecht und wir mussten die Erhöhung der Aufnahmequote aus den Medien erfahren. Wir sind nach jener auf 1,3 Prozent davon ausgegangen, dass dies Bestand haben wird.
Gibt es platzmässig noch Kapazitäten in der Gemeinde oder müssen allenfalls bald Container aufgestellt werden?
Die aktuelle Wohnungssituation ist prekär und Wohnraum kaum bezahlbar. Gerade wir als kleine Gemeinde ohne grosse Industrie- oder Gewerbehäuser, welche umgenutzt werden könnten, haben mit dieser Erhöhung zu kämpfen. Die Wohnungsnot ist derzeit schon sehr gross. Insbesondere auf finanzschwächere Personen und Familien oder auch Sozialhilfebezüger, welche auf günstigen Wohnraum angewiesen sind, wirkt dies sehr schwer.
Container oder Modulbauten sind sicher ein Thema. Aber auch diese sind derzeit kaum verfügbar oder sehr kostenintensiv. Dazu kommt, dass in der Gemeinde Hagenbuch kein geeigneter Standort vorhanden ist und das jeweilige Baugesuch unter Umständen zu Verzögerungen führen kann. Dieses Vorgehen wurde übrigens bereits nach der letzten Erhöhung geprüft.
Und wie sieht es mit der Zivilschutzanlage aus?
Auch diese ist ungeeignet, um Personen über einen längeren Zeitraum unterzubringen. Zumal jene in Hagenbuch im Schulhaus untergebracht ist, würde dies einen erheblichen Mehraufwand für alle Beteiligten bedeuteten. Zudem verfügt die Anlage weder über Tageslicht noch Küche. Ein weiteres Thema wäre natürlich noch die «Verdichtung». Das setzten wir aber bereits um: Mehrere Personen müssen sich eine Wohnung beziehungsweise teilweise sogar ein Zimmer teilen.
Neue Lösungen müssen her
Zusätzliche Asylsuchende brauchen auch mehr Betreuung. Geht das noch mit dem jetzigen Stellenetat?
Nein. Wir sind definitiv an die Grenzen gestossen. Nun sind wir gefordert, zusätzliches Personal zu suchen, was aber aufgrund des Fachkräftemangels ein schwieriges Unterfangen ist. Wir werden erneut mit Nachbargemeinden zusammenkommen müssen und Strategien für die Zukunft suchen. Mit einer einzigen Teilzeitmitarbeiterin im Bereich Sozial- und Asylwesen waren wir bisher schon kaum in der Lage, eine adäquate Betreuung und Kontrolle zu gewährleisten. Dank der geduldigen Zusammenarbeit mit dem Staatssekretariat für Migration und der Zuteilung einer Familie im Rahmen der letzten Erhöhung, war es überhaupt noch möglich, Infrastruktur zu suchen und zur Verfügung zu stellen. Mit der neuerlichen Erhöhung ist das Mass überschritten. Die Betreuung und administrativen Arbeiten können nicht mehr bewältigt und neue Lösungen müssen gefunden werden.
Was bedeutet die Quotenerhöhung allgemein in finanzieller Hinsicht für die Gemeinde?
Die Kosten werden steigen und das Budget kaum eingehalten werden können. Wir sind mit Sicherheit nicht in der Lage, neuen Wohnraum zu schaffen oder überteuerten zur Verfügung zu stellen. Dennoch sollen die finanziellen Aufwendungen im Asylbereich keine Auswirkungen auf andere Projekte haben. Wir sind davon überzeugt, dass wir trotz der neuerlichen Erhöhung der Aufnahmequote unseren Gürtel nur unwesentlich enger schnallen müssen. Es wird mit Sicherheit Auswirkungen auf das Budget beziehungsweise die Jahresrechnung haben, aber sie werden mit einer gesunden Asylpolitik und einer Portion Zuversicht sowie Innovation überschaubar bleiben.
Wie ist in Hagenbuch die Situation mit Personen mit Status s, respektive wo liegen diesbezüglich allenfalls die Herausforderungen?
Diese Situation ist derzeit gut. Die Herausforderungen liegen beiderseits darin, dass man nicht weiss, ob und wie lange der Schutzstatus überhaupt noch gewährleistet wird. Das führt dazu, dass man sich nie über die Situation sicher ist.
Gewisse Ohnmacht und Verunsicherung auszumachen
Wie schätzen Sie die Lage in Sachen Status S ganz allgemein ein?
Das Engagement der Bevölkerung ist teilweise gross, aber aufgrund fehlender Kompetenzen kann es durchaus schwierig werden, weshalb eine neuerliche Aufnahme von Status-S-Personen bei Privatpersonen kaum möglich sein wird. Es besteht zudem eine gewisse Ohnmacht bei den Gemeinden, und die Verunsicherung führt auch bei der Bevölkerung zu Sorgen. Hinzu kommt, dass das Personal am Anschlag, teilweise gar überfordert und überlastet ist – und trotzdem schiebt der Bund die Verantwortung einfach auf Kanton und Gemeinden ab.
Was muss nun aus Ihrer Sicht im Asylbereich passieren?
Es besteht auf verschiedenen Ebenen grosser Handlungsbedarf. Auf politischer bin ich der Meinung, dass eine starre Quote für die Gemeinden diskutiert werden muss. Während für grössere Gemeinden respektive Städte die Unterbringung einfacher ist – auch bezüglich Fachkräfte und Betreuung – fehlt es bei kleinen Gemeinden in allen Belangen. Des Weiteren müssen Asylentscheide schneller gefällt und umgesetzt werden.
TEXT UND INTERVIEW: RENÉ FISCHER