Wie die Aussicht nach einer langen Bergwanderung

  19.11.2022 Aadorf

Gemäss unzähliger Medienmitteilungen dieses Jahres mangle es an Lehrkräften und sie wären völlig überlastet. Doch es fehle nicht an Motivation, sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigen zu wollen. Manuel Zahner war einst gelernter Kaufmann, doch seit über sechs Jahren gilt das Klassenzimmer als sein Arbeitsplatz.

Eine Bewerbung auf eine freie Stelle – nicht zwingend die beste Lösung, sondern möglicherweise die einzige. In Aadorf erlebt man den Fachkräftemangel. Die Folge: Pensionäre, die im Dauereinsatz arbeiten oder Auflösungen von Niveau-Abteilungen in Fremdsprachen, da keine Lehrpersonen gefunden werden konnten. Aber im Verhältnis zu anderen sind an dieser Sekundarschule, die über 250 Schülerinnen und Schüler besuchen, nur qualifizierte Lehrpersonen eingestellt.
Scheint so, als hätte sich Manuel Zahner genau zur richtigen Zeit umschulen lassen. Der 32-Jährige lernte einst Kaufmann und entdeckte in einem Internatspraktikum als Betreuer seine wahre Berufung. «Ich durfte die Jugendlichen in einer entscheidenden Lebensphase begleiten und führen. Als Kaufmann arbeitete ich gerne im Büro mit anderen Menschen, doch abends fragte ich mich oft, was der tiefere Sinn ist. Ich denke, ihn nun gefunden zu haben», sagt er. Zahner absolvierte nach der Berufsmaturität die 13-monatige Passerelle in Frauenfeld. Damit hatte er die Zulassung für den Sek-I-Lehrgang in der Tasche. Nach fünfjähriger Studienzeit durfte er sich diplomierter Sekundarlehrer nennen.
Heute unterrichtet der Wiler Mathematik, Deutsch, Naturwissenschaften, Sport, Werken, Berufliche Orientierung, Informatik, Ethik – Religionen – Gemeinschaft und Technisches Gestalten. Er sagt aber: «Ich unterrichte keine Fächer, sondern Schüler.»

«Ich, Lehrer? Niemals!»

Diskussionen über die Welt und das Leben zu provozieren, gehöre für ihn zum Lehrerjob, um Jugendliche herauszufordern. Doch konsequentes und ausdauerndes Einfordern von Regeln und Verhalten sind anstrengend und ermüdend. Wenn aber der Erfolg sichtbar wird, so ist das für ihn das SchönSte im Beruf. «Nach drei Jahren sieht man die Fortschritte, die die Jugendlichen gemacht haben. Natürlich nicht nur wegen mir, das ist sonnenklar. Doch geniesst man es trotzdem – so wie die Aussicht nach einer langen Bergwanderung», erzählt Manuel Zahner, der in einem 80-Prozent-Pensum unterrichtet.
Von einem Musterschüler war er in seiner Schulzeit zwar weit entfernt, doch seine Zukunft sieht er weiterhin an solchen Orten. «Ich war zielstrebig, lernte viel. Doch irgendwie forderte ich die Lehrpersonen oft heraus», erinnert er sich, «und so habe ich regelmässig die Klassenzimmertüre von aussen betrachtet und ungewohnt viele Gespräche mit meinen Eltern geführt.» Damals schwor er sich, niemals wieder zur Schule zu gehen. Heute ist sie sein Alltag.

Schüler brauchen Grenzen

Die Schwierigkeiten eines Lehrers liegen wahrscheinlich darin, jeder Schülerin und jedem Schüler gerecht zu werden. Alle stehen an einem anderen Ort. Dabei gilt es, sie abzuholen, wobei man gleichzeitig gerecht sein und natürlich alle gleich behandeln muss. Zahner meint: «Das führt auch immer wieder zu innerer Zerrissenheit. Ebenfalls kann es unter anderem sehr streng sein, konsequent die Regeleinhaltung einzufordern, auch wenn man am liebsten öfters ein Auge zudrücken würde. Doch für Jugendliche ist es unglaublich wichtig, einen verlässlichen Rahmen zu spüren, der nicht einmal so und einmal anders ausgelegt wird.»

Lehrerdasein – nicht attraktiv genug?

Gemäss Berechnungen bildet die Schweiz derzeit zu wenig Lehrer aus, obwohl die Pädagogische Hochschule Zürich immer mehr Studenten dafür vorbereitet. Nur zehn Prozent der Ausgebildeten wechseln innerhalb von fünf Jahren den Beruf. Nach ebenso vielen waren insgesamt 80 Prozent aller Lehrkräfte noch an einer Schule tätig. Neue Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen die wahren Gründe: Viele Lehrerinnen kamen erst kürzlich ins Pensionsalter. Ausserdem steigen die Schülerzahlen aufgrund des Bevölkerungswachstums immer weiter an. Der dritte und letzte Grund dafür ist das stark verbreitete Teilzeitarbeitspensum. Wie lauten nun die Lösungen?
Dazu Manuel Zahner: «Als Präsident der Konferenz der Thurgauer Sekundarschullehrkräfte diskutiere ich diese Frage immer wieder mit dem Gremium. Grundsätzlich sehe ich die Problematik in der Attraktivität des Lehrberufes. Diese müsste erhöht werden, dann gäbe es genug Bewerbungen. Natürlich müssten auch die Zulassung und Art der Ausbildung angeschaut und angepasst werden, doch dies ist eine sekundäre Geschichte. Wenn die Attraktivität des Lehrberufes erhöht wird, verlassen weniger den Job. Die Gesellschaft ist viel heterogener und individualisierter geworden, woraus sich die Anforderungen an Lehrpersonen massiv veränderten. Die Rahmenbedingungen des Berufes müssen unbedingt an die aktuelle Realität angepasst werden.»

JULIA MANTEL


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