Wie das Züribiet Emotionen zu entdecken beginnt
22.11.2025HISTORIE
Zwei Gelehrte verwandeln das einst beschauliche Städtchen Zürich in ein kulturelles Zentrum mit europäischer Ausstrahlung: Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Freund Johann Jakob Breitinger (1701–1776). Das «Limmat-Athen» zieht mittellose ...
HISTORIE
Zwei Gelehrte verwandeln das einst beschauliche Städtchen Zürich in ein kulturelles Zentrum mit europäischer Ausstrahlung: Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Freund Johann Jakob Breitinger (1701–1776). Das «Limmat-Athen» zieht mittellose junge Schriftsteller an. Bodmers Haus «Zum oberen Schönenberg» (heute beim Hauptgebäude der Universität) wird zu einer Dichterwerkstatt. Der Mäzen erkennt das poetische Talent des Süddeutschen Christoph Wieland (1733–1813), will ihn bei sich haben und fördert ihn grosszügig. Auf der Reise zu Bodmer wird Wieland von seinem Weinländer Verehrer ins Schlossgut Wespersbühl bei Alten in die Ferien eingeladen!
Bodmer und Breitinger
Bodmer besucht die Schulen in Zürich, wird Kaufmann und sammelt in Genf, Lyon und Lugano Kenntnisse im Seidenhandel. Er interessiert sich ausserdem für französische, englische und italienische Literatur, wird in Zürich als Lehrer an das Collegium Carolinum am Grossmünster und für Helvetische Geschichte berufen. In langjähriger Zusammenarbeit mit Breitinger begründet er die Helvetische Gesellschaft und ein literarisches Programm für eine deutschsprachige Kultur. Sein Haus wird zum Sammelpunkt des geistigen Lebens. Er wird mit Breitinger Herausgeber mittelalterlicher Texte wie die Manessische Handschrift und Teile des Nibelungenliedes.
Bodmers Freund Breitinger wird nach dem Schulbesuch in Zürich für das geistliche Amt ordiniert. Er ist Herausgeber der «Septuaginta» (die ins Altgriechisch übersetzte hebräische Bibel), wird Lehrer des Hebräischen und Griechischen am Collegium Carolinum und Chorherr am Grossmünster. Mit der Gründung der Asketischen Gesellschaft will er zur Weiterbildung angehender Pfarrer beitragen.
Zürichs Weltoffenheit mit Leuten «von Genie und Geschmack»
Beeinflusst von der englischen Literatur sowie von Rousseaus Ideen des «Zurück zur Natur» lehnen Bodmer wie Breitinger die vorherrschende rationale Weltsicht des normgebenden Deutschen Johann Christoph Gottsched (1700– 1766) aus Königsberg in Leipzig ab. Gegen Gottsched richtet Bodmer seine Schrift «Abhandlung vom Wunderbaren in der Poesie» (1740) und Breitinger die «Kritische Dichtkunst» (1740). Den Zürchern gelingt eine Neuausrichtung, eine geistige Öffnung. Sie prägen das literarische und kulturelle Leben in Zürich und darüber hinaus. Bodmer ist als Gesprächspartner international gefragt. Und Bodmer ist nicht der einzige Literat: Der in Zürich weilende, wegen seiner Werbetätigkeit für die preussische Armee abgewiesene Schriftsteller Major Ewald von Kleist meint zum Geistesleben in der Limmatstadt: «Statt dass man in dem grossen Berlin kaum 3–4 Leute von Genie und Geschmack antrifft, trifft man in dem kleinen Zürich mehr als 20– 30 derselben an.»
Diese (Welt-)Offenheit war in der von einem geistig strengen orthodoxen Regiment geprägten Stadt keineswegs gesichert. Bodmer wie Breitinger setzen nebst dem grammatikalisch korrekten Gebrauch der deutschen Sprache die Fantasie und die Gefühle in der Literatur in ihr Recht und werden zu Vordenkern. Bodmer verfasst Schulbücher und unterstützt die Schaffung der «Töchterschule der Stadt Zürich». Beide Geschlechter sollen am wachsenden Weltwissen des Zeitalters der Aufklärung teilhaben. Gottfried Keller setzt später Bodmer und Breitinger und der Stadt, in der sie wirkten, in der Novelle «Der Landvogt von Greifensee» ein Denkmal.
Bodmers Hoffnung auf Christoph Wieland
Grosse Hoffnung zur Mitarbeit setzt Bodmer auf den vielversprechenden jungen Christoph Wieland (1733–1813) aus Süddeutschland. An der Universität Tübingen entstehen die ersten Schriften des pietistisch Geprägten. Bodmer lädt ihn 1752 nach Zürich ein. Mit einem Briefwechsel mit dem Theologen Heinrich Schinz (1726–1788), später in Altstetten, wird der Besuch eingefädelt. Auch der Theologe Johann Kaspar Hess (1709–1768), der Arzt Hans Caspar Hirzel (1751–1817) und der Ästhetiker Johann Georg Sulzer (1720–1779) werden nach Tübingen geschickt. Sie sollen prüfen, ob Wieland der Förderung durch Bodmer würdig sei. Wieland selbst macht briefliche Angaben über sich, die Bodmer (nach den negativen Erfahrungen mit Klopstock (1724–1803)) gefallen: «Ich bin ein grosser Wassertrinker und ein geborener Feind des Bacchus.» Der Griechischlehrer Johann Adam Osiander (1701–1756) in Tübingen sagt, dass Wieland ein «ingenium praecox» (ein frühreifes Talent) sei. Der Jüngling stecke immer zu Hause und studiere.
Wielands Ferien bei seinem Weinländer Verehrer im Wespersbühl
Die Einladung nach Zürich erfolgt 1752 und Wieland schreibt überglücklich an Bodmer zurück: «Ich danke der Vorsehung mit innigster Rührung für ihre Freundschaft und ich müsste sehr unglücklich seyn, wenn ich mich in der Hoffnung betröge, in etlichen Wochen mehr durch ihren Umgang gebessert werden, als es bisher in ganzen Jahren geschehen konnte.»
Wieland reist ab und wird am 18. Oktober von Heinrich Schinz in Schaffhausen abgeholt. Aber die Reise erfährt einen Unterbruch. Der in Zürich sehnlichst erwartete Wieland ist für eine Woche in die Ferien auf das bei Alten liegende Gut Wespersbühl eingeladen. Bodmer schreibt 1752 in sein Tagebuch: «Den 25sten October kam Wieland bey mir an. Billeter hatte ihn in Wespersbühel empfangen, wo damals auch Schinz und seine Verlobte waren.» Der Theologe Joh. Heinrich Schinz (1726–1788), ein Vertrauter und Mitarbeiter Bodmers, war Hauslehrer in der Familie Billeters.
Bodmer meint mit «Billeter» Johann Christof Billeter (1705–1773), Stadtrichter in Zürich, den von 1761 bis 1767 im Schloss Andelfingen residierenden Landvogt. Billeter wohnt erst seit wenigen Jahren im Wespersbühl. Die Erben des Generals Schmid im Schloss Goldenberg hatten ihm ihr Gut Wespersbühl 1745 verkauft. Dieser wurde am 10. Juli des gleichen Jahres mit zwei Juchart Reben am Hummenberg bei Alten und mit den zwei Teilen der «untern Fischenz in der Thur» belehnt.
Billeter stirbt 1773 im Wespersbühl. Der Sitz geht erbweise an seine Verwandte Anna Maria Magdalena Steinbrüchel geb. Usteri. Im Jahre 1781 kauft den Hof Andreas Keller im benachbarten Marthalen.
Im Herbst 1752 kommt der neunzehnjährige Wieland aus Tübingen zu seinem Verehrer auf das Burggut. Der Verlauf der gemeinsamen Ferientage und des Lebens überhaupt über der Thur sind unbekannt geblieben.
Die Helvetische Regierung erlaubt nach dem grossen Umbruch von 1798 vorerst dem Landvogt Ludwig Escher im Schloss Andelfingen wohnhaft zu bleiben. Später wird es an Dr. med. Mathias Escher (1765–1832) verpachtet.
Der Unterstatthalter Keller in Ohringen befiehlt, die im Schloss noch vorhandenen Überbleibsel zu entfernen, darunter zwei lange und eine kleine Tafel mit den Wappen aller einst regierenden Landvögte. Dank der Verweigerung des Pächters sind diese Tafeln mit den Wappen von 64 Vögten und zwei Oberamtmännern erhalten geblieben. Bei einer am 15. August 1923 im Schloss abgehaltenen Auktion erwirbt die Schlosskommission Kiburg die fünf Tafeln für 800 Franken und kauft drei Fässer mit den Wappen der Landvögte Billeter, Lavater und Schweizer.
Wieland in Zürich
Bodmer schreibt 1752 in sein Tagebuch: «Den 25sten October kam Wieland bey mir an. Billeter hatte ihn in Wespersbühel empfangen, wo damals auch Schinz und seine Verlobte waren.» Pfarrer Joh. Heinrich Schinz (1726–1788), ein Vertrauter und Mitarbeiter Bodmers, fand in der Familie Billeters eine Hauslehrerstelle.
Der junge Wieland wird in Zürich «im Klopstockzimmer» untergebracht. Bodmer schreibt dazu: «Ich kann sowohl in Absicht auf den moralischen Charakter als auf die Gelehrsamkeit ohne poetische Entzückung sagen: hier ist mehr als Klopstock, ohne Vergleichung mehr. Er ist fähig in der Kritik und der Poesie die grössten Verrichtungen zu vollführen. Er trinkt so wenig Wein als ich, raucht nicht Tabak und brauset und tanzt nicht.»
Wieland ist gleich überaus produktiv. Er wirkt an der Herausgabe der «Sammlung Züricherischen Streitschriften zur Verbesserung des deutschen Geschmacks wider die Gottsched’sche Schule» mit. Er holt auch zu einem Rundumschlag gegen alle Kritiker seiner Freunde aus.
Am Anfang verkehrt er nur mit Bodmer, Breitinger, Hess und Schinz. Dann weitet sich der Freundeskreis. Wichtig wird ihm schliesslich auch der Idyllenmaler Salomon Gessner (1730–1788), Teilhaber des Zürcher Verlags Orell.
Mit Bodmers und Breitingers Hilfe vertieft Wieland seine klassischen Studien. Bodmer hatte Homer übersetzt und wird für Wieland auch zum Vermittler mittelalterlicher Dichtung. Als Milton-Übersetzer macht Bodmer Wieland auch mit englischer Literatur, mit Shakespeares Werken bekannt. Bodmer sorgt rührend für seinen Schützling. Er empfiehlt ihn dem Schweizer Johann Georg Sulzer, Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin.
Wieland war zu einem kompromisslosen Parteigänger der Zürcher geworden. Im Juni 1754 verlässt er mit Worten grösster Dankbarkeit Bodmers Haus: «Sie haben die ganze Güte Ihres vortrefflichen Herzens über mich ausgebreitet.»
Der Satz in einem Ausstellungstext für Wieland dürfte zutreffen: «Erst nach seinem Auszug aus Bodmers Haus vermochte er von seiner extremen Überidentifikation als ‹Bodmerien› nach und nach abzurücken.» Im Wegzug aus Zürich nach Bern eröffnen sich ihm neue Tore.
MARKUS SCHÄR


