Wenn Reststoffe zu Werkstoffen werden
10.02.2024 RegionSind Reststoffe aus der Bauindustrie, der Lebensmittelverarbeitung, der Textilherstellung und der Tierhaltung die Rohstoffe der Zukunft? Die Sonderpräsentation im Gewerbemuseum Winterthur stellt eine Reihe von Studien, Projekten und bereits erprobten Neuentwicklungen ...
Sind Reststoffe aus der Bauindustrie, der Lebensmittelverarbeitung, der Textilherstellung und der Tierhaltung die Rohstoffe der Zukunft? Die Sonderpräsentation im Gewerbemuseum Winterthur stellt eine Reihe von Studien, Projekten und bereits erprobten Neuentwicklungen vor.
Bei der Gewinnung und Weiterverarbeitung von Materialien fällt immer etwas ab. In industriellen Produktionsanlagen, auf Baustellen oder in Werkstätten, aber auch beim Umformen, Veredeln oder Verpacken entstehen Stoffe, die oft ungenutzt bleiben und thermisch entsorgt, deponiert oder sogar exportiert werden. Ebenso bilden Abbruchmaterialien oder Altstoffe grosse Mengen an Material, die entsprechende Verarbeitungen nach sich ziehen, in der Entsorgung wie in Recyclingsystemen. Die aktuelle Produkt- und Wegwerfkultur steht stark in der Kritik und es wächst zusehends ein Bewusstsein dafür, dass ein ressourcenschonender Umgang mit Rohstoffen dringend nötig ist. In der Produktentwicklung, an Forschungsinstituten und Hochschulen wird intensiv an Alternativen zu herkömmlichen Primärstoffen und Herstellungsverfahren gearbeitet, die Abfallstoffe und Reste als Wertstoffe verstehen.
Statt thermisch entsorgt, deponiert oder exportiert zu werden, liessen sich die immensen Mengen der anfallenden, bislang ungenutzten Stoffe zur Gestaltung neuer Materialien und Gegenstände nutzen. Sind also Reststoffe aus der Bauindustrie, Lebensmittelverarbeitung, Textilherstellung und Tierhaltung die Rohstoffe der Zukunft? Und könnten dereinst sogar Stoffe wie menschliche Ausscheidungen und Haare oder auch Kohlendioxid und Feinstaub verwertet werden?
Ein Blick in die Geschichte
Wirft man einen Blick zurück, zeigt sich, dass die Nutzung von Sekundär- und Reststoffen zur Herstellung verarbeitbarer Materialien keine völlig neue Geschichte ist. So vereint beispielsweise der historische Protokunststoff Bois Durci aus dem frühen 20. Jahrhundert die Materialien Blut und Staub in Form von Rinderblut und Holzstaub in sich. Vorwiegend genutzt als kostengünstiges ersatzmaterial für Holz und Gusseisen verdrängten ihn in den 1920er-Jahren neue industrielle Kunststoffe. Heute wird er in der Materialentwicklung und im Produktdesign wieder neu erforscht. Andere Werkstoffe aus Reststoffen sind heute noch immer alltäglich. Polyvinylchlorid, ursprünglich entwickelt, um den Reststoff Chlor zu binden, wurde zum erfolgreichsten Kunststoff der Nachkriegszeit. Oder Holzfaserplatten, aus Sägemehl und Restholz der Holzindustrie gefertigt, nehmen einen grossen Stellenwert in der Bau- und Möbelindustrie ein.
Doch gleichzeitig werden auch viele Reststoffe übersehen, sind wenig geschätzt oder sogar mit Ekel behaftet. Zirkuläre Materialnutzungsszenarien mit dem Ziel einer Kreislaufwirtschaft werden zwar bereits vielerorts diskutiert, doch mangelt es noch häufig an Akzeptanz, anfallende Stoffe konsequent als Werkstoffe zu begreifen. Nebst Forschungen im Labor sind hier Wissenschaftsvermittlung und nachhaltige Designentwürfe gefragt, um die Grenzen der Ästhetik dessen, was bis anhin als Abfall, Müll und Schmutz bezeichnet wird, auszuweiten. Auseinandersetzungen mit dem Thema innerhalb der Kunst oder des experimentellen Designs können die allgemeine Wahrnehmung von Materialien ebenfalls beeinflussen.
Die Sonderpräsentation fokussiert eine wertschätzende Nutzung von Reststoffen als Werkstoffe und macht auf das unausgeschöpfte Potenzial von Materialien aufmerksam, die heute immer noch als Abfallstoffe bezeichnet werden. Anhand von Forschungsarbeiten, Studien und experimentellen Projekten, aber auch mit Blick auf innovative Neuentwicklungen und bereits wirtschaftlich bewährte neue Materialien und Produkte wird eine Bandbreite von Denkanstössen zur Diskussion gestellt.
(PD
Sonderpräsentation
«Blut und Staub» knüpft inhaltlich an die aktuelle Ausstellung «Perfectly Imperfect» bis 12. Mai an und ist gleichzeitig der Auftakt für das seit letztem Herbst neu konzipierte Materiallabor im Gewerbemuseum Winterthur.
Die Themen der Wechselausstellungen werden künftig verstärkt mit dem permanent eingerichteten, interaktiven Materiallabor verknüpft und kontextualisiert. Dessen neues Raum- und Vermittlungskonzept fokussiert dabei stark auf Prozesse des Erfahrens und Entdeckens, um dem Publikum vielfältiges Wissen über Materialien zugänglich zu machen.
Die Sonderpräsentation findet im Gewerbemuseum Winterthur vom 1. März bis 1. September satt. Eröffnung ist am Donnerstag, 29. Februar um 18.30 Uhr. Weitere Informationen unter:
www.gewerbemuseum.ch