Wahre Wirkung entsteht nicht durch grosse Worte
15.11.2025 AadorfIm Projekt «Wilde Nachbarn» setzen sich Gemeinden, Fachleute und Privatpersonen für jene Wildtiere ein, die direkt vor unserer Haustür leben – Igel, Dachs, Amphibien über den Fuchs bis zu verschiedenen Mausarten. Ihren Lebensraum zu gestalten, braucht nicht viel ...
Im Projekt «Wilde Nachbarn» setzen sich Gemeinden, Fachleute und Privatpersonen für jene Wildtiere ein, die direkt vor unserer Haustür leben – Igel, Dachs, Amphibien über den Fuchs bis zu verschiedenen Mausarten. Ihren Lebensraum zu gestalten, braucht nicht viel – auch einfache Massnahmen zeigen Wirkung.
In mehreren Schweizer Kantonen und im europäischen Ausland engagieren sich Menschen im Rahmen des Projekts «Wilde Nachbarn» für die Förderung und den Schutz kleiner Wildtiere im Siedlungsraum. In Aadorf informierten am Mittwochabend zwei Verantwortliche über den Projektstand und lieferten spannende Einblicke in ihre tägliche Arbeit. Begrüsst wurden die gegen 50 Interessierten – meist Privatpersonen, die sich aktiv im Projekt engagieren – vom Aadorfer Gemeinderat Stefan Brunner, zuständig für das Ressort Raumplanung und Hochbau. Mit seiner Affinität zu Themen rund um Biodiversitätsförderung sei es ihm eine besondere Freude, dass der diesjährige Anlass «Wilde Nachbarn» in Aadorf stattfinde. Es bewege sich einiges und die Gemeinde habe sich in den Legislaturzielen der Nachhaltigkeit verpflichtet. Erstmals sei man Teil der kantonalen Initiative «Vorteil naturnah» und habe im Rahmen dessen gemeindeeigene Flächen aufwerten können. «Zudem haben wir dieses Jahr erstmals den Gartenpreis verliehen. Die Auszeichnung haben Gartenbesitzer erhalten, die sich besonders für Artenvielfalt und naturnahe Gestaltung in ihrem Aussenraum einsetzen.» Er lobte die kleineren und grösseren Bestrebungen zur Schaffung von mehr Lebensraum für die einheimische Fauna und Flora, doch es sei ihm bewusst, dass der bedeutendste Hebel zur Verbesserung nicht auf Privatgrund zu suchen sei, sondern bei den Flächen der industrialisierten Landwirtschaft. Aber: «Es ist nicht der Landwirt, der hier die Schuld trägt, es sind politische Fehlanreize, die zur Verarmung führen. Wir müssen das Problem miteinander lösen – nicht gegeneinander. Alle Beteiligten müssen sich für mehr Biodiversität einsetzen, mit Freude und Engagement. Der Igel ist ein sympathischer Botschafter und Türöffner für alle Anliegen rund um Artenvielfalt und Gartengestaltung. Wirkung entsteht nicht durch grosse Worte, sondern durch kleine Taten.»
Mehr Mut zu Lücken und Löchern
Katja Rauchenstein, Wildtierbiologin und Projektleiterin von «Wilde Nachbarn Thurgau», blickte auf die Aktion 2025 «Freie Bahn für Igel & Co.» zurück, anlässlich derer zahlreiche konkrete bauliche Massnahmen umgesetzt wurden, um den Tieren im Siedlungsraum die Zirkulation zu erleichtern. «Es lebt vor unserer Haustüre, in unseren Gärten und durchgrünten Wohnquartieren trifft man Eichhörnchen, Füchse, Dachse, Marder, Igel, Amphibien und viele mehr an.» Lückenlose Mauern, Zäune und hohe Treppenstufen erschwerten oder verunmöglichten den kleinen Fussgängern allerdings den Zugang zu geeigneten Lebensräumen. Dadurch seien sie gezwungen, Umwege zu nehmen, was sie länger gefährlichen Bereichen wie Strassen aussetzt und wertvolle Zeit für die Nahrungssuche kostet.
Mit Hilfe vieler engagierter Teilnehmenden seien 79 Durchgänge neu geschaffen oder gesichtet und gemeldet worden: Löcher in Maschendrahtzäunen, Abgesägte Latten in Bodennähe in Holzzäunen, Zwischenstufen bei Treppen und sogar Kernbohrungen durch Mauern. Auf diversen Fotos zeigte die Biologin Beispiele, wie diese Durchgänge mit Mindestmass von zehn auf zehn Zentimeter durchaus ästhetisch gestaltet werden können. Sie betonte die Wichtigkeit des Projekts, das mit dem nahenden Jahresende keinesfalls abgeschlossen sei: «Jeder einzelne Durchgang ist wertvoll und erleichtert den Tieren das Leben.» Damit klar sei, dass es sich um gewollte Lücken handle, solle jeder Durchgang mit einer entsprechenden Plakette markiert werden.
Die ersten Passanten schon kurz nach Eröffnung
Beeindruckend rasch wird das Angebot angenommen. Installierte Wildtierkameras haben gezeigt, dass bereits in der ersten Nacht die ersten Passanten von der neuen Möglichkeit Gebrauch machten. Am meisten wurden die Durchgänge von Hauskatzen genutzt, gefolgt von Igeln und Mardern. Tagsüber wurden Spatzen oder Amseln fotografiert, obwohl sie darauf keineswegs angewiesen sind.
Unabhängig von der Anzahl an Durchgängen locken ältere Gärten aufgrund ihrer Struktur wie alten Baumbeständen oder verwilderten Ecken mehr Lebewesen an. Sie bieten mehr Nahrung und Versteckmöglichkeiten. Mit gezielten Vorkehrungen wie einheimischen Pflanzen, Ast- oder Laubhaufen, Holzbeigen, Kompost oder einem Igelhaus kann auch aus einem jungen Garten ein wertvoller Lebensraum für kleine Wildtiere geschaffen werden.
Rauchenstein verwies abschliessend auf die Meldeplattform des Projekts, wo nebst erstellter und/oder gesichteter Wildtierdurchgänge auch sämtliche Wildtierbeobachtungen gemeldet werden können, zwecks Erhebung der verschiedenen Arten in unserer Umgebung. Alle Sichtungen werden auf einer interaktiven, für alle öffentlich einsehbaren Karte eingetragen; eine gute Übersicht, wo welche Tiere unterwegs sind und wie durchgängig das Gebiet ist.
Ein Projekt für mehr Leben zwischen Haus und Hecke
Durch den dritten Teil des Anlasses führte die Wildtierbiologin Anouk Taucher, die seit über zehn Jahren für das Projekt «Wilde Nachbarn» tätig ist. Sie stellte aktuelle Forschungsergebnisse aus der Schweizer Wildtierforschung vor und erklärte die verschiedenen Möglichkeiten des Monitorings, die zum Nachweis von Säugetieren im Siedlungsraum zum Einsatz kommen. Besonders der Igel lebe heutzutage fast ausschliesslich in Gärten, in industrialisierten Landwirtschaftsflächen sei er kaum mehr anzutreffen. Aber: «Ein einziger Garten reicht ihm nicht als Lebensraum, er braucht mehrere Gärten und Grünflächen, in denen er zirkulieren kann.» Belegt wurde diese Aussage durch einen Igel im nächtlichen Zürich, den die Forschenden mit einem Sender ausgerüstet über sechs Stunden beobachtet hatten. Er legte eine Strecke von 1,5 Kilometern zurück; eine normale Strecke für einen männlichen Igel.
Nach einem Rückgang der Population um 40 Prozent zwischen 1992 und 2016 habe sich der Bestand bis 2024 wieder etwas erholt. Spitzenreiter mit der höchsten Igeldichte seien die Siedlungsgebiete im Kanton Thurgau. «Darauf dürfen Sie stolz sein. Warum das letzte Jahr ein überdurchschnittliches Igeljahr war, können wir (noch) nicht erklären.
In allen 16 Projektgebieten ist diese höhere Dichte aufgefallen.»
Die verschiedenen Erhebungsmethoden
Eine weitere Methode, die zur Erhebung von Tierbeständen nebst Sichtungsmeldungen oder Wildtierkameras zum Einsatz kommt, ist die Kamerafallen-Box. Sie wird am Boden platziert, mit einem Futterköder versehen und wartet auf Besucher, die meist nicht lange auf sich warten lassen: Verschiedene Mausarten, Igel, Wiesel, Dachs, Fuchs und Marder – aber auch Hauskatzen oder Vögel werden abgelichtet. In der Box kann mit Weissblitz fotografiert werden, was Farbaufnahmen ermöglicht.
Das aufwändigste und technischste Verfahren, um Tiervorkommen nachzuweisen, ist das Auslesen von DNA. Im vorgestellten Beispiel aus der Stadt Zürich erklärte Taucher, wie aus den Gewässern um und in der Stadt DNA herausgefiltert und im Labor analysiert wurde. Sobald ein Tier mit dem Gewässer in Berührung kommt, hinterlässt es entsprechende Spuren. Fokussiert auf kleine Wildtiere hätten sich vor allem verschiedene Mausarten gezeigt. «Dass die Methode in der Stadt funktioniert, hat uns gefreut. In den Gewässern hat es sehr viel DNA von Menschen, Hunden und Katzen. Diese musste zuerst herausgefiltert werden. Bis nur noch jene der Wildtiere übrig war, war ein langer Prozess.» Das Highlight der Arbeit sei der Nachweis der gefährdeten Wasserspitzmaus gewesen, vor ein paar Jahren das Tier des Jahres der Organisation Pro Natura. «Dieses Tier konnten wir zum ersten Mal in der Stadt nachweisen – und das erst noch an zwei Orten.»
Taucher rief zum Abschluss ebenfalls dazu auf, Wildtierbeobachten auf der Plattform einzutragen – je mehr Sichtungsmeldungen, desto besser die Übersicht, mit welchen wilden Nachbarn wir unseren Siedlungsraum teilen.
MARIANNE BURGENER
Wildtiersichtung oder Durchgang melden unter: www.wildenachbarn.ch


