Wäre ohne ihn die Zürcher Reformierte Kirche versandet?
20.09.2025HISTORIE
Der 1504 an der Marktgasse 22 im aargauischen Bremgarten geborene Heinrich Bullinger gehört zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Schweiz und der Reformation. Sein lebenslanges Wirkungsfeld lag in Zürich, griff jedoch weit über die Landesgrenzen hinaus. Mit ...
HISTORIE
Der 1504 an der Marktgasse 22 im aargauischen Bremgarten geborene Heinrich Bullinger gehört zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Schweiz und der Reformation. Sein lebenslanges Wirkungsfeld lag in Zürich, griff jedoch weit über die Landesgrenzen hinaus. Mit zahlreichen Persönlichkeiten stand er in Briefkontakt und förderte die internationale Ausbreitung des reformierten Glaubens. Grosser Beliebtheit erfreuten sich seine gedruckten theologischen und historischen Werke. Sie sollten aber auch die Mission seines in Kappel getöteten Vorgängers und Freundes Huldrych Zwingli fortführen, die geschwächte Zürcher Reformation erhalten und stärken.
Theologische und historische Werke
Zu Bullingers 124 Titel umfassenden theologischen Werk gehören: das «Erste Helvetische Bekenntnis» (1536), von den reformierten Kirchen von Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen, St. Gallen, Mülhausen und Biel herausgegeben. Mit dem «Consensus Tigurinus» (1549) gelingt ihm die Einigung der Zürcher mit der Genfer Kirche. Mit dem Hauptwerk «Dekaden», auch «Hausbuch» genannt, die alle wichtigen Punkte des reformierten Glaubens behandeln, beeinflusste er Calvin sowie die englische und amerikanische Frömmigkeit. Das «Zweite Helvetische Bekenntnis» (1566) wird von den französischen, schottischen, polnischen und ungarischen Reformierten übernommen und von den meisten reformierten Kirchen hochgeschätzt. Bibelkommentare über viele Bücher des Alten und alle Bücher des Neuen Testamentes.
Zu den historischen Werken gehören «Verfolgung der Christen von der Antike bis ins 16. Jahrhundert», eine «Reformationsgeschichte» (1564), eine «Eidgenössische Geschichte» (1568) und eine «Zürcher Geschichte» (1573 – 1574).
Der bestinformierte Zeitgenosse
Heinrich Bullinger bewegte sich äusserlich in einem engen Lebensraum: Er war in Basel zur Beratung der helvetischen Konfession, unternahm eine Reise nach Chur und besuchte Badeorte der Zürcher Landschaft. Aber er empfing in Zürich bedeutende Gelehrte und pflegte schriftlich weitreichende Verbindungen. Calvin war fünfmal in Zürich zur persönlichen Unterredung. Bullinger schrieb ihm 300 Briefe. Er lebte ganz seinem handschriftlichen Briefwechsel, dem umfangreichsten! Von hohem dokumentarischem Wert für die Geschichte der zwinglianischen Reformation und die europäische Kulturgeschichte, mit ausgiebigen Mitteilungen über Personen, Ereignisse, Alltag, Volkskunde und Klima. Es existieren über 12’000 Briefe von und an Bullinger. Er korrespondiert mit Reformierten, Lutheranern, Anglikanern, Täufern, mit bedeutsamen Führungspersönlichkeiten wie Lady Jane Grey, Heinrich II., Franz II. von Frankreich, Heinrich VIII., Eduard VI. und Elisabeth I. von England, Christian III. von Dänemark, Philipp von Hessen und dem Pfalzgrafen Friedrich III. Jede Woche gehen Briefe aus dem Pfarrhaus zum Grossmünster in die Welt hinaus. Die einheimischen Studenten an fremden Universitäten leitet Bullinger von Zürich aus. Sie besuchen die Hochschulen in Basel, Lausanne, Genf, Strassburg, Marburg, Wittenberg und Heidelberg, vereinzelt auch in England, Frankreich und Italien. Umgekehrt bietet die Stiftsschule am Grossmünster auswärtigen Studierenden Gelegenheit, Zürich und seine Kirche kennenzulernen. Die Zürcher Stiftsschule wird zur Pflanzstätte für die reformierten Pfarrer der ganzen Ostschweiz. Bullinger gehört zu den bestinformierten Männern! Die meisten Briefe sind im Staatsarchiv und in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt. Sie werden mit den heutigen Mitteln laufend öffentlich zugänglich gemacht.
Vom Schüler zum Lehrer: Deutschland – Kappel – Bremgarten
Der erst zwölfjährige Heinrich wird von Bremgarten zur weiteren Ausbildung nach Emmerich am Niederrhein und Köln geschickt. Dort begeistern ihn der Humanist Erasmus von Rotterdam, die Kirchenväter und die Bibel. Luthers und Melanchthons Schriften führen ihn zum evangelischen Glauben. Er kehrt 19-jährig als «Magister Artium» zurück und wird von dem aus Frauenfeld stammenden Abt Wolfgang Joner zum Lehrer an die Klosterschule der Zisterzienser in Kappel am Albis berufen. Auch die Zisterzienserinnen in Tänikon werden von Kappel visitiert.
Der Klostergemeinschaft in Kappel, den Schülern, Mönchen und dem «Gesinde», legt er die Bibel in deutscher Sprache aus und stellt die Weichen für radikale Reformen im Kloster: 1525 werden die Fresken in der Kirche übertüncht, 1526 legen die Mönche ihre Kutten ab. Bullinger versucht auch ausserhalb von Kappel das Feuer für die Reformation zu entzünden und korrespondiert mit reformiert gesinnten Priestern im katholischen Kanton Zug. Das Kloster kommt in den Verruf, ein Bollwerk der «Lutheraner» zu sein. Nicht zufällig plündern die Innerschweizer nach ihrer erfolgreichen Schlacht von Kappel das Kloster.
Ehemann und Vater, Freund und Nachfolger Huldrych Zwinglis
Bullinger gründet seinen eigenen Haushalt in Bremgarten. Er geht mit Anna Adlischwyler, der letzten Nonne im Kloster am Oetenbach in Zürich (heute etwa Standort der Stadtpolizei), die Ehe ein. Mit seinem Berater und Freund Huldrych Zwingli, Prädikant am Grossmünster, reitet er 1528 an die Disputation zugunsten der Reformation nach Bern. Während Bullingers Vater in Bremgarten wegen seines evangelischen Bekenntnisses abgesetzt worden war, wird sein Sohn 1529 in derselben Gemeinde zum Seelsorger gewählt.
Dann geschieht die Tragödie von Kappel. Zwingli wird am 11. Oktober 1531 von gegnerischen Soldaten getötet. Bullinger flüchtet mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern von Bremgarten nach Zürich. Schon am Sonntag nach seiner Ankunft hält er auf Zwinglis Kanzel eine Predigt, «dass es vielen vorkam, Zwingli sei nicht tot, sondern gleich dem Phönix wieder auferstanden» (Oswald Myconius).
Für eine biblische Verkündigung «frei, ungebunden und ohne Einschränkung»
Am 9. Dezember 1531 wird Bullinger mit 27 Jahren zum Nachfolger Zwinglis als Antistes (Vorsteher) der Zürcher Kirche gewählt. Er nimmt die Wahl erst an, als ihm der Rat zugesichert hatte, er könne seine Verkündigung «frei, ungebunden und ohne Einschränkung» halten, auch wenn dabei Kritik an der Obrigkeit nötig sei. Die Freiheit des Kanzelwortes war ihm, dem engagierten Prediger, ein zentrales Anliegen.
Nach der Niederlage bei Kappel gab es im Zürcher Rat Stimmen, die Zwingli und weiteren Predigern die Schuld am Krieg gaben und ihnen verbieten wollten, sich zu politischen Themen zu äussern. Man einigte sich darauf, dass Umstrittenes von Seiten der Pfarrerschaft dem Rat vorgetragen werden sollte. In der «Prädikanten- und Synodalordnung» (1532) erarbeitet Bullinger eine dauerhafte Verfassung, welche die Beziehungen zwischen Kirche und Obrigkeit regelte.
Bullinger ist es zu verdanken, dass sich Zürich erholt. Wäre ohne Bullinger die Reformation nach Zwinglis Tod gar versandet? Mit ruhiger Festigkeit wehrt er der katholischen Reaktion, bekämpft die Wiedertäufer und behauptet die Freiheit des Predigtamtes. Er zeichnet sich auch als Seelsorger aus – besonders in Pestzeiten. Unzählig sind die aufgenommenen Glaubensflüchtlinge aus Locarno, Frankreich und England. Mit der Lösung von Erziehungs- und Bildungsfragen, dem Ausbau des Schul- und Stipendienwesens und der Berufung ausgewiesener Gelehrter verhilft Bullinger Zürich zu hohem Ansehen.
Die Zeitgenossen rühmen an ihm die Stetigkeit und Gleichmässigkeit seines Charakters. Immer hatte er die Kraft, auch in den Zeiten schwerster Anfechtungen, auszuharren. Gegenüber den Auswirkungen der Gegenreformation jedoch war er machtlos.
Zur Erinnerung
Heinrich Bullinger stirbt am 17. September 1575 im Chorherrenhaus, «Antistitium» genannt, Sitz des Vorstehers der gesamten Zürcher Pfarrerschaft. Er wird im Kreuzgang des Grossmünsters begraben. Am Tage darauf wird vor dem Rate der Zweihundert sein Abschiedsschreiben verlesen, unter gespanntester Aufmerksamkeit aller. Wie Bullinger es gewünscht, wird wenige Wochen später Rudolf Gwalter zu seinem Nachfolger gewählt – mit Einmut.
Der Beitext zur Skulptur an der nordöstlichen Aussenmauer des Grossmünsters erinnert an:
HEINRICH BULLINGER 1504–1575
OBERSTER PFARRER AM GROSSMUENSTER + NACH ZWINGLIS TOD DER ZUERCHERISCHEN KIRCHE WEISER LEITER + BERATER ALLER REFORMIERTEN KIRCHEN + URHEBER DES ZWEITEN HELVETISCHEN BEKENNTNISSES + VAETERLICHER BESCHUETZER UND TROESTER DER BEDRAENGTEN GLAUBENSGENOSSEN
Mit der Abschaffung der Glaubensbekenntnisse in den reformierten Landeskirchen gerät Heinrich Bullinger im 19. Jahrhundert langsam in Vergessenheit. Heute, da nicht nur die Kenntnisse, das Wissen um den Glauben alarmierend geschwunden sind und dadurch auch seine Substanz leidet, verdient Bullingers Lebenswerk eine sich lohnende Aufmerksamkeit.
MARKUS SCHÄR