Vom Himmelsprojekt zur Sozialpolitik
16.08.2025Wie die einst politisch bestimmenden Freisinnigen den Schweizer Bundesstaat von 1848 verantworten, erwirken die kirchlichen Erneuerer im 16. Jahrhundert, mit der Aufhebung der Klöster, die Anfänge der Zürcher Sozialpolitik. Beide einst entschlossen anstossenden Kräfte werden ...
Wie die einst politisch bestimmenden Freisinnigen den Schweizer Bundesstaat von 1848 verantworten, erwirken die kirchlichen Erneuerer im 16. Jahrhundert, mit der Aufhebung der Klöster, die Anfänge der Zürcher Sozialpolitik. Beide einst entschlossen anstossenden Kräfte werden heute eher an der Seitenlinie gesehen.
Der Umbau in Zürich zur Reformationszeit geht mit grossen Schritten vor sich und strahlt bald auf die Zürcher Landschaft, schliesslich auch in die Gemeine Herrschaft Thurgau aus. Nun werden sogar die Klöster infrage gestellt!
Zürich ohne Klöster
In den Zürcher Frauenklöstern war der Personalbestand bereits auf ein Minimum reduziert. Im November 1524 legen die Priorin des Klosters am Oetenbach (heute Standort der Stadtpolizei) und die zwei noch verbliebenen Konventfrauen den Schleier ab. Ende November geht die Äbtissin und einzig übrig gebliebene Insassin des Fraumünsters, Katharina von Zimmern, den gleichen Weg.
Nun beschliessen zum Jahresende Kleiner und Grosser Rat, auch die Männerklöster in der Stadt aufzuheben. Dies wird den versammelten Mönchen im Barfüsserkloster (heute Standort des Zürcher Obergerichtes) vorgelesen. Die jungen Mönche sollen ein Handwerk lernen, um sich später selbst durchzuschlagen. Die begüterten Mönche erhalten ihre Schenkungen zurück, andere bekommen Stipendien. Alte Mönche müssen ebenfalls das Ordensgewand ablegen, können aber ihren Lebensabend im Franziskanerkloster verbringen. Wer jedoch am eingekleideten Mönchtum festhält, muss Zürich verlassen. Am 10. Dezember übernehmen die Stadtknechte (Polizei) das Dominikaner- und das Augustinerkloster (heutige Standorte: Zentralbibliothek und Augustinerkirche an der Bahnhofstrasse).
«Ihre Armut ist gar keine Armut, im Gegenteil» (Zwingli)
Die Aufhebung der Klöster war durch Zwinglis Stellungnahmen, Schriften und Predigten begründet, angestossen und schliesslich umgesetzt worden. Nach seiner bibelzentrierten, grundlegenden Schrift «Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit» versetzt die göttliche Gerechtigkeit mit ihrem Liebesgebot die Glaubenden in eine ständige Spannung. Der Anspruch richtet sich aber nicht nur an Private, vielmehr noch an die Klöster und Orden, an «die unnützen Bäuche, die müssigen Pfaffen, Mönche und Nonnen» (Zwingli).
Alt Bundesrat Moritz Leuenberger hat in seiner fundierten Rede an der Feier zum 500. Geburtstag von Jean Calvin in Genf im Juni 2009 gesagt: «Reformation ist nicht Revolution, die die Absicht hat, eine neue, definitive Ordnung zu etablieren, Reformation ist sehr viel anspruchsvoller. Reformation ist die ewige Unrast, welche das Gewissen befragt und sich neu orientiert, die neu Geschaffenes stets wieder in Frage stellt und wiederum neue gestaltet. Das bedeutet auch Unsicherheit und Ungewissheit. Doch gerade sie können eine Chance zur kreativen Gestaltung der Welt sein.»
Es war bekannt: Zur Gründung eines Klosters gehört die Ausstattung mit Grundbesitz. Schenkungen machen viele Klöster zu mächtigen und reichen Grundherrschaften. Sie sind privilegiert. Ihre Insassen unterstehen zwar den Gelübden Gehorsam, Keuschheit und Armut. Aber Zwingli schreibt im «Kommentar über die wahre und falsche Religion» (März 1525) zum Gelübde der Armut: «Ihre Armut ist gar keine Armut, im Gegenteil, nirgends kann man Reichtümer mit grösserer Ruhe verbunden finden als in den Klöstern. Lebst du (dagegen) als Reicher in der Stadt, so musst du dich um vieles kümmern, treppauf, treppab laufen, um Regen, Hagel und sonstige Wetterlaunen besorgt sein. Unsere Klosterinsassen fürchten und sorgen nicht in dieser Weise; ohne Schweiss und blutsaure Arbeit fällt ihnen alles zu, sie arbeiten nicht und ackern nicht, aber allenthalben bringt man Fasanen, Krammetsvögel, Hasen, Rehe, Fische, Forellen, Rötel und wie die auf dem Markte feilgebotenen Delikatessen alle heissen. Wahrhaftig, es ist schwer, diese Armut zu ertragen!
Dann die Kleider! Im Winter wärmen sie sich mit Fellen, Wolle und Feuer, sodass sie fast wider Willen schwitzen müssen, im Sommer sind ihre Kleider so durchlässig für den Wind, so leicht, dass man glauben könnte, sie lebten von der Luft.
Verlangt die Obrigkeit Steuern, so sind die Klosterinsassen von Steuern befreit. Werden Wachtposten verteilt, so halten sie entgegen, sie seien an Gottes Gebote verhaftet und könnten derartiges nicht leisten. Kurz, sie haben gar keine Gemeinschaft mit den arbeitenden Nachbarn und Bürgern. Droht ein Krieg, so schlafen sie nicht unter freiem Himmel, sondern schnarchen ruhig in ihren lustigen Wohnungen; selbst Salomo in aller seiner Pracht konnte eine solche Ruhe nicht geniessen!
Niemandem schulden sie etwas als nur sich selbst, nur für sich selbst sorgen sie. Das Allerschlimmste aber ist: je grössere Schätze sie zusammenscharren, desto selbstgefälliger werden sie; je hartnäckiger sie bei der Übernahme der Kommunallasten der Obrigkeit Widerstand leisten, desto mehr wollen sie geachtet werden und als Herren über alle gelten. Man ehrt und verehrt sie, hält sie für Götter. « Niemals wehren sie Ehren von sich ab, die allein Gott gebühren ...»
Nach der Aufhebung der Klöster – Fürsorge und Schulen
Die Auflösung der Klöster in Zürich verschafft der Stadt grosse finanzielle Mittel. Der Rat verwendet sie zum Ausbau des Fürsorge- und des Schulwesens. Das Mandat «Ordnung und Artikel antreffend das Almuosen» vom 15. Januar 1525 bringt eine umfassende Neuordnung der Fürsorge.
Artikel 1 beschreibt die Einrichtung des «Mushafens» im einstigen Predigerkloster. Täglich wird im aufgehobenen Dominikanerkloster in einem Kessel Suppe aus Hafermehl, Gerste und Gemüse gekocht.
Für die Essensverteilung wird die Stadt nach den sieben Wachen unterteilt: Oberdorf, Lindenhof, Neumarkt, Niederdorf, Münsterhof, Kornhaus, Rennweg. Eine Kommission trägt die Verantwortung. Aufseher und Pfleger achten darauf, dass die Armen, die Wöchnerinnen, die durch Unglück, grosse Kinderzahl, Krankheit, Gebrechlichkeit oder Alter in Not geraten waren, versorgt werden. Wer nicht imstande ist, zum Predigerkloster zu kommen, dem wird die Verpflegung nach Hause gebracht.
Der Bettel vor den Kirchen, der bisher allgemein üblich gewesen war, soll aufhören. Ende und Verbot jeglichen Bettels ist im Artikel 10 festgehalten.
Die grosse Almosenordnung vom 15. Januar 1525 bestimmt auch, dass die Aussätzigen («sundersiechen») «im siechenhus vor der stadt an der Spanweid» Aufnahme finden. Für die Pestkranken («blatterechten lüten») übernehmen die einstigen Nonnen im Oetenbach die Fürsorge. Das Stadtspital wird im Predigerkloster (heute Standort der Zentralbibliothek) eingerichtet.
Vom Lebenswandel abhängig – Inventarisation und Verwaltung
Die Spenden machte man vom Lebenswandel abhängig. Wer liederlich ausgab und selbstverschuldet in Armut geriet, wer schöne Kleider trug mit Gold, Silber und Seide, wer sich als Kuppler oder Hure betätigte, wer gegen die Reformation wetterte und nicht zur Kirche ging, wer fluchte und in den Trinkstuben sass, bekam kein Almosen. Vor jeglicher Unterstützung waren Geuder und Nichtstuer ausgenommen.
Dagegen zahlte man an jene, die durch Schicksalsschläge aller Art verarmt waren oder deren Verdienst einfach nicht genügte, die Familie zu ernähren. Auch kinderreiche Familien und Alte wurden bedacht. Wer sich aber trotzdem beim Betteln erwischen liess, dem strich man die Unterstützung für eine Woche. Die Kinder Unbemittelter, höchstens acht pro Schule, wurden geschult, sofern ihre Leistungen befriedigten. Später kam das Almosenamt auch für die Kosten einer Handwerkslehre auf. Die Findelkinder liess man auf Kosten der beschlagnahmten Klostervermögen bis zum Abschluss der Berufslehre ausbilden.
Wer regelmässig Unterstützungen bezieht, soll ein gegossenes Abzeichen erhalten, das er öffentlich und gut sichtbar tragen muss. So bleibt ihr Lebenswandel überprüfbar. Daran nimmt jene Zeit keinen Anstoss.
Das vom Staat eingezogene Klostergut wird inventarisiert und unter die Kontrolle städtischer Verwalter («Schaffner») gestellt. Jedem Kloster seinen eigenen Schaffner. Um die aufgesplitterte Organisation zu zentralisieren, entsteht das Obmannamt mit Sitz im Barfüsserkloster. Der Obmann leitet die Verwaltung aller früheren Klostergüter. In diesen Fürsorgeeinrichtungen liegen die Anfänge von dem, was der heutige Staat an sozialen Aufgaben zu erfüllen hat.
Das Chorherrenstift zum Grossmünster wird Universität
Das reich begüterte Chorherrenstift Grossmünster jedoch wird nicht aufgehoben. An die Stellen der freiwerdenden Chorherrenpfründen werden zuallererst Lehrer der biblischen Ursprachen berufen. An die Stelle der Gottesdienste gemeinsamen Gesanges der Chorherren tritt die «Prophezei», die gemeinsame Lektüre, Übersetzung der hebräischen und griechischen Ursprachen der Bibel und deren Auslegung. Das Stift wird zunächst in eine philologisch-theologische Lehranstalt umgewandelt. Ausgewiesene Männer für Hebräisch, Griechisch und Lateinisch werden gewonnen. Bibelausleger neben Zwingli sind Leo Jud, Konrad Pellikan und Oswald Myconius. Aus der Arbeit der Prophezei geht die Zürcher Bibel 1531 hervor. Hauptaufgabe dieser Schule jedoch wird die Ausbildung der Prädikanten, der Pfarrer. Vorbild für viele reformierte Theologenschulen in aller Welt.
Zu Lebzeiten Zwinglis befasst man sich hier an den Vormittagen mit dem Alten Testament, woran er sich auch selbst beteiligte. Nachmittags stand im Fraumünsterchor das Neue Testament im Zentrum. Aus Zwinglis intensiv betriebenen biblischen Textarbeiten gingen seine Übersetzungen, Auslegungen und Kommentare zum Alten Testament hervor, v. a. zu den Psalmen, den Propheten Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Kleinen Propheten.
Die ersten Grundlagen zum theologischen Studium an der «Profezey» waren zuvor durch die Lateinschulen am Grossmünster und am Fraumünster gelegt worden.
Später wird das Chorherrenstift auch naturwissenschaftliche und medizinische Lehranstalt. Es sind die Anfänge der 1833 gegründeten Universität Zürich.
Wer regiert in Elgg?
Mit der Aufhebung der Klöster in der entfernten Stadt Zürich wird in weiteren Lebensbereichen der tiefgreifende und vielfache Umbruch der Gesellschaft verstärkt. Dieser Wandel ergreift bald auch die nahe Landschaft. Auch sie löst sich wie die Stadt zusehends von klösterlicher Dominanz. Jede Gemeinde hat nebst ihren weltlichen Herrschaften ihre sie mitprägende Klostergeschichte erlebt. Es muss erstaunen, wie zahlreich die nahen und entfernten kirchlichen Gerichts- und Grundherren sich ausgebreitet hatten. An ihrem Ende zur Reformationszeit waren nun neue Kräfte für neue Aufgaben verpflichtet.
In der Gegend von Elgg und Aadorf hatten die Benediktiner von St. Gallen seit Jahrhunderten Grundbesitz, aber schon längere Zeit an weiterem Einfluss verloren. Die Klosterfrauen in Töss und die Augustinerchorherren in Kreuzlingen hatten hier ihre Ansprüche, aber anderswo bedeutend mehr zu sagen. Immerhin hatte das Spital im weit entfernten katholischen Rapperswil über die Reformationszeit hinaus in Elgg das Recht der Kollatur, die Pfarrstelle zu besetzen. Bleibt Fischingen nicht ganz zu vergessen, für Elgg – zeitweise in seinen Gemarkungen befindlich – das gewichtigste Kloster der Cluniazenserinnen in Tänikon. Dieses verdient, seiner allgemeinen Bedeutung wegen und seiner geradezu dramatischen Tage zur Reformationszeit, noch einer etwas ausführlicheren Erwähnung. Bereits an dieser Stelle jedoch sei angedeutet, wie sehr im Städtchen an der Eulach vor und nach der Einführung der Reformation nicht die Mönche und Nonnen, sondern die «Weltlichen» auf dem Schloss und in den Gassen regierten.
MARKUS SCHÄR