Vertrauen ist die wichtigste Basis einer guten Zusammenarbeit
20.12.2025 ElggSeit dem 1. August 2025 ist Sarah Bolleter neue Gesamtleiterin des Schulheims Elgg. Wie sie die erste Zeit in ihrem anspruchsvollen Amt erlebt hat, erzählt sie im Interview mit der «Elgger/ Aadorfer Zeitung».
Als ehemalige Schulleiterin aus Winterthur haben Sie vor gut ...
Seit dem 1. August 2025 ist Sarah Bolleter neue Gesamtleiterin des Schulheims Elgg. Wie sie die erste Zeit in ihrem anspruchsvollen Amt erlebt hat, erzählt sie im Interview mit der «Elgger/ Aadorfer Zeitung».
Als ehemalige Schulleiterin aus Winterthur haben Sie vor gut vier Monaten die Gesamtleitung des Schulheims Elgg übernommen. Was ist Ihre Motivation für diese besondere Zielgruppe von Jugendlichen?
Meine Motivation für unsere Zielgruppe ist die gleiche wie in der Regelschule: Ich engagiere mich unglaublich gern für junge Menschen. Mit dem Ziel, dass sie ihr Potenzial entdecken und entfalten können, dass sie einen Platz finden, der für sie passt und dass sie sich in unserer Gesellschaft einbringen können. Die Jugendlichen im Schulheim haben besonders komplexe Hintergründe mit belasteten Familiensystemen, schweren Erfahrungen, oft psychiatrischen Diagnosen. Die Zukunftsaussichten sind nicht immer rosig. Umso mehr lohnt es sich, ihnen Perspektiven nachhaltig zu ermöglichen – für sie selbst, aber auch für ihr Umfeld und für unsere ganze Gesellschaft. Wenn das gelingt, freue ich mich riesig! Neben der Motivation für die jungen Menschen bei uns, interessiert mich die enorme Vielfalt an Aufgaben und Herausforderungen im Schulheim. Neben vielen pädagogischen Themen befasse ich mich mit baulichen, finanziellen, rechtlichen und personellen Fragen, mit Themen aus den Bereichen Familienbegleitung, Therapien, Qualitäts-Entwicklung, Digitalisierung und vielem mehr. Das macht meine Arbeit spannend!
Was sind für Sie Qualitätskriterien einer guten Zusammenarbeit?
Hui, da gibt es viele! Und gleichzeitig ist wohl Vertrauen die wichtigste Basis für eine gute Zusammenarbeit. Vertrauen wiederum entsteht nicht automatisch. Dafür müssen wir positive Erfahrungen miteinander machen – menschlich wie auch fachlich. Das heisst, dass wir Orte und Zeiten brauchen für Begegnungen, dass wir transparent informieren, dass wir uns fachlich weiterentwickeln, dass wir einander auch zeigen, wenn wir an Grenzen stossen oder etwas nicht so gelungen ist, dass wir zusammen lachen und uns freuen können. Als Führungsperson gestalte ich bewusst eine Organisation mit, in der Vertrauen wachsen kann.
Was möchten Sie eventuell neu einführen oder ausbauen?
Ich durfte eine Organisation mit guten Grundlagen übernehmen: Die Arbeit mit den Jugendlichen ist sehr professionell, wir haben äusserst kompetente Mitarbeitende, viele auch langjährig. Dafür bin ich dankbar. Grossen Wert lege ich auf proaktive und wertschätzende Kommunikation und darauf, dass wir auch zwischen den Bereichen eine enge, zielführende Zusammenarbeit pflegen. Eine unserer grossen Ressourcen ist gerade, dass wir verschiedene Berufsgruppen haben: Heilpädagogen und Arbeitsagogen in der Schule, Sozialpädagogen im Wohnbereich, Therapeuten, Hauswirtschaft, Verwaltung und so weiter.
In diese bereichsübergreifende Zusammenarbeit möchte ich noch mehr investieren.
Wie schwierig ist es, die Balance zwischen notwendiger Struktur und individueller Freiheit der Jugendlichen zu halten?
Das ist immer eine Gratwanderung. Wir alle benötigen Klarheit und gleichzeitig Autonomie. Im Schulheim arbeiten wir mit möglichst wenigen, aber klaren Regeln. Es ist wichtig, dass die Jugendlichen lernen, weshalb wir überhaupt Regeln brauchen. Und dass wir ihnen deutlich machen, wenn sie eine rote Linie überschreiten. Wenn sie sich (noch) nicht an die Regeln halten können, arbeiten wir intensiv mit ihnen. Sie sollen lernen, selbstständig zu denken und Selbstverantwortung zu übernehmen.
Wie gehen Sie und Ihr Team mit herausforderndem Verhalten oder Traumafolgestörungen um?
Herausforderndes Verhalten gehört bei uns zum Tagesgeschehen. Wenn Jugendliche Grenzen überschreiten, geht es einerseits darum, dass andere möglichst nicht darunter leiden. Andererseits geht es darum, mit den Jugendlichen Entwicklungen anzustossen, zu lernen, neue Strategien auszuprobieren. Dabei arbeiten wir sehr beziehungs- und kompetenzorientiert. Ohne eine tragfähige Beziehung sind gute Entwicklungen sehr viel schwieriger. Wir versuchen, mit den Jugendlichen ihre Ressourcen und Fähigkeiten zu entdecken und diese für Entwicklungen zu nutzen. Im Umgang mit herausforderndem Verhalten arbeiten wir auch eng im Netzwerk: Wir tauschen uns viel aus, unterstützen uns gegenseitig, arbeiten natürlich auch eng mit den Eltern, mit den zuweisenden Stellen und weiteren Beteiligten zusammen.
Wie werden die individuellen Entwicklungsziele der Jugendlichen gefördert?
In der pädagogischen Arbeit geht es eigentlich immer um die Förderung der individuellen Entwicklungsziele. Wenn die Jugendlichen zu uns kommen, machen wir zuerst eine intensive so genannte Diagnostikphase. Hier klären wir sehr genau, welche Ressourcen und welche Risikofaktoren die Jugendlichen – und ihre Familiensysteme – mitbringen. Natürlich machen wir das zusammen mit den Jugendlichen und ihren Familien. Darauf basierend erarbeiten wir ein gemeinsames Verständnis der Gesamtsituation, welches wiederum die Grundlage für die individualisierten Ziele ist. Wir gestalten die Situationen im Alltag so, dass die Jugendlichen lernen und möglichst Erfolgserlebnisse haben können. Oft machen die Jugendlichen kleine Schritte. Dann gibt es wieder Momente, wo wir uns über grosse Entwicklungsfortschritte freuen können.
Inwiefern werden Jugendliche beim Übergang in die Selbständigkeit oder bei Anschlusslösungen begleitet und unterstützt?
Eine Ausbildung und ein selbstständiges Leben sind die grossen Ziele eines Heimaufenthaltes. Die Berufswahl und -vorbereitung steht im Fokus bei uns. Die Mitarbeitenden unserer Schule begleiten die Jugendlichen dabei intensiv – sie verfügen über ein grosses Netzwerk zu Ausbildungsorten und Firmen, die Schnuppereinsätze und Lehrstellen anbieten. In der Arbeitsagogik oder in unserer Küche können die Jugendlichen berufliche Kompetenzen über die Schulfächer hinaus erwerben. Und unsere interne Berufsberaterin unterstützt gezielt und individuell. Auch mit unserem betreuten Wohnen für Lernende (6 Plätze) bieten wir einen schrittweisen Übergang in die Selbstständigkeit. Und bei Bedarf begleiten wir die Jugendlichen und allenfalls ihre Familien auch nach dem Austritt noch weiter.
Der schwierigste Aspekt Ihrer anspruchsvollen Führungsarbeit?
Als Führungsperson gilt es, viele Spannungsfelder zu bearbeiten und auszuhalten. Dabei muss ich Entscheidungen in komplexen Situationen treffen, ohne zu wissen, was genau «richtig» oder «falsch» ist. Ein Beispiel: Eine Jugendliche reagiert auf Überforderung mit Gewalt, sie greift die Mitarbeitenden an und macht Mobiliar kaputt. Ganz offensichtlich benötigt diese Jugendliche intensive Unterstützung, damit sie eine positive Entwicklung machen kann. Gleichzeitig bin ich verpflichtet unsere Mitarbeitenden und auch die anderen Jugendlichen zu schützen. In solchen Situationen ist es mir als Führungskraft wichtig, die Einschätzungen von verschiedenen Seiten einzuholen, Gespräche zu führen, das Spannungsfeld transparent zu machen. Trotzdem muss ich aushalten, dass meine Entscheidungen negative Folgen haben können. Das braucht viel Kraft und macht meine Arbeit im wahrsten Sinn des Wortes spannend.
Ein kurzes Fazit nach den ersten vier Monaten?
Ich arbeite unglaublich gern als Gesamtleiterin des Schulheims Elgg! Hier habe ich einen Ort gefunden, an dem ich mich wohl fühle, mit super Leuten zusammenarbeiten kann, auf Herausforderungen treffe, welche mich in Schwung halten. Ich freue mich, das Schulheim zusammen mit unserem vielfältigen Team weiterzuentwickeln. Last but not least: Mit unserem Schulheim sind wir mitten im Dorf Elgg präsent. Aus meiner Sicht ist die Zusammenarbeit mit den Behörden und die Einbindung im Dorf sehr positiv. Das scheint mir nicht selbstverständlich. Ich freue mich, wenn ich an unserem nächsten Sommerfest vom 20. Juni 2026 wieder verschiedene Menschen aus Elgg begrüssen darf!
INTERVIEW: CHRISTINA AVANZINI

