Vanessa Sacchet im Gespräch mit Tina Soltermann Würmli
01.04.2023 Elgg, Leute aus der RegionTina Würmli, geboren am 7. August 1977 in Mexiko City, wuchs zusammen mit ihren beiden jüngeren Schwestern grösstenteils im Ausland auf. Sie spricht Deutsch, Englisch, Französisch und ein wenig Spanisch. 1998 kehrte sie zurück in die Schweiz und absolvierte die ...
Tina Würmli, geboren am 7. August 1977 in Mexiko City, wuchs zusammen mit ihren beiden jüngeren Schwestern grösstenteils im Ausland auf. Sie spricht Deutsch, Englisch, Französisch und ein wenig Spanisch. 1998 kehrte sie zurück in die Schweiz und absolvierte die Hotelfachschule in Luzern. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder. Ich möchte von der 45-Jährigen wissen, wie es war, immer wieder umzuziehen und was sie am meisten prägte.
«Mein Vater absolvierte bei der Firma Sulzer sein Studium als Giessereiingenieur und erhielt ein Stellenangebot in Mexiko. So zogen meine Eltern 1976 von Frauenfeld nach Mexico City. Ein Jahr später kam ich zur Welt, 1979 meine Schwester Eva. Wir wurden von einem mexikanischen Kindermädchen betreut, die Spanisch sprach. An was ich mich noch erinnern kann, ist, dass der Kaktus an Weihnachten mit einer Lichterkette geschmückt war und es in Mexiko Brauch ist, dass Kinder an Ostern junge ‹Bibeli› geschenkt bekommen. Wir erhielten zwei junge Enten, die fortan in unserem Garten lebten.
Nach vier Jahren zogen wir nach Düsseldorf, infolge eines erneuten Stellenwechsels meines Vaters. 1984 kam unsere Schwester Mira dort zur Welt. Meine Eltern sprachen immer Schweizerdeutsch mit uns, egal wo wir lebten auf dieser Welt. Wir hatten eine tolle Kindheit. Unsere Nachbarn besassen eine grosse Gärtnerei, wir spielten mit den beiden Buben, die in unserem Alter waren, und gingen zusammen in den Kindergarten. Wir gehörten dazu und es fühlte sich so an, als hätten wir nie woanders gelebt. Wir hielten uns mehr draussen auf als irgendwo anders und hatten überall Gspänli. Es gab enorm viele Kinder und wir waren immer bei jemanden daheim am Spielen. Wir verbrachten acht wunderschöne Jahre in Düsseldorf. Ich war im vierten Schuljahr als mein Vater 1988 in Rouen eine neue Stelle erhielt und wir in den Osterferien nach Frankreich umzogen.»
Französisch reichte für «bonjour, oui und non»
«Rouen liegt in der Normandie und es gab keine deutsche Schule dort. Die am nächsten gelegenste wäre in Paris gewesen, eineinhalb Stunden von unserem Ort entfernt. Wir besuchten eine reguläre französische Schule, die ein Berufskollege meinem Vater empfahl. Eine der besten Mädchenschulen mitten in der Stadt. In Frankreich geht man montags, dienstags, donnerstags und freitags von 8.30 bis 11.30 sowie zwischen 13.30 und 16.30 Uhr zur Schule. Am Mittwoch haben alle frei. Es ist üblich, dass man dort am Mittag in der schuleigenen Kantine isst. Unsere Mutter musste uns jeweils in die Stadt fahren, was 45 Minuten dauerte. Da Eva nicht in der Kantine essen wollte, fuhr meine Mutter viermal am Tag hin und her.
Für uns war es ein Schock als wir die von Mauern umgebene Mädchenschule besuchten. In Düsseldorf wuchsen wir auf dem Land auf, wohnten in einem Dorf und spielten im Ort mit Freunden. Nach drei Monaten des Pendelns, fanden meine Eltern heraus, dass es zu Fuss nur zehn Minuten von unserem Wohnort entfernt in einem grossen Park eine ganz gute Nonnenschule für Mädchen und Buben gab. So wechselten wir in den Sommerferien erneut die Schule. Wir hatten das Glück, dass wir tolle Französischlehrer hatten, die sich in der Zeit, wo die anderen Schüler selbstständig arbeiteten, mit uns hinsetzten, um französische Vokabeln zu büffeln. Bereits im Dezember, nur vier Monate später, sprachen wir Schwestern fliessend Französisch, waren gut integriert und hatten eine tolle Zeit.
1992 konnte mein Vater erneut die Karriereleiter aufsteigen und nahm eine Stelle in Deutschland an. Wir zogen nach Bocholt im Münsterland, wo ich die 9. Klasse eines Gymnasiums besuchte. Dort kann man im 10. Schuljahr für ein halbes oder ein ganzes Jahr einen Auslandsaufenthalt machen. Viele Schüler gingen nach Amerika. Ich kehrte für ein halbes Jahr zurück nach Frankreich in meine alte Klasse und durfte bei meiner Freundin wohnen. Die andere Hälfte des Schuljahres absolvierte ich in Deutschland.»
1995 nach Bogota, Kolumbien, gezogen
«Ich stand zwei Jahre vor dem Abiturabschluss als wir nach Bogota zogen und ich dort die deutsche Humboldt-Schule ‹Colegio Andino› besuchte. Es gab auch eine Schweizer Schule. Nach all den Wechseln zuvor fanden wir es jedoch keine gute Idee, nochmals das Schulsystem zu tauschen. So besuchten wir diese Schule und ich schloss 1997 mein deutsches Abitur ab.
Schon vor dem Umzug nach Kolumbien standen zwei Berufe zur Auswahl, die für mich infrage kamen. Zum einen wollte ich Dolmetscherin werden, oder dann die Hotelfachschule in Luzern absolvieren. Für den Dolmetscherberuf hätte ich vier Jahre Grundstudium gebraucht. Da ich nicht so gerne zur Schule ging, entschied ich mich für die Hotelfachschule, in welcher nach jedem der fünf Semester ein Praktikum fällig war. So konnte ich zwischen jedem Semester ein halbes Jahr arbeiten.
Damals gab es für die Hotelfachschule eine Wartezeit von zwei Jahren. Meine Eltern meldeten mich bereits vor dem Umzug nach Kolumbien an, da sie wussten, dass ich nach dem Abitur in die Schweiz gehen würde, weil mein Vater darauf bestand, dass wir unsere Ausbildung in Europa machen sollten. Ich hatte dann aber einen schweren Reitunfall und es verzögert sich alles um ein halbes Jahr. Mein Onkel besitzt ein Restaurant am Vierwaldstättersee und es anerbot sich, dass ich bei ihm wohnte. 1998 reiste ich ganz allein nach Luzern und lebte zum ersten Mal in meinem Leben im Heimatland. Meine Eltern und die beiden Schwestern blieben in Kolumbien.
Mein erstes Praktikum verbrachte ich in der Küche eines tollen Hotels am Murtensee. Im Jahr 2000 absolvierte ich ein einjähriges Servicepraktikum in Massachusetts, USA, und 2001 zog es mich noch für ein Jahr ins Tessin nach Ascona. Im Jahr darauf hatte ich meinen Abschluss als eidgenössisch diplomierte Hotelfachfrau SHL/HF im Sack. Meine Familie kehrte 2002 nach insgesamt sieben Jahren Aufenthalt in Kolumbien zurück in die Schweiz nach Luzern. Mira, meine kleinste Schwester, absolvierte ebenfalls die Hotelfachschule. Eva fing ein Psychologiestudium an, brach dann ab und startete eine IT-Ausbildung bei der UBS, wo sie heute noch tätig ist. Beide Schwestern wohnen in Bassersdorf, meine Eltern immer noch in Meggen, Luzern.»
Eine wunderschöne Kindheit und Freunde fürs Leben
«Rückblickend gibt es für mich keine negativen Seiten, weil wir so oft umgezogen sind. Durch das Leben in den verschiedenen Ländern, erhielt ich sozusagen ein Bild der Welt, was ich als sehr wertvoll empfinde. Man wird tolerant und flexibel. Es ist wahnsinnig schön, sich mit so vielen unterschiedlichen Menschen zu unterhalten und ihre Kulturen kennenzulernen. Das ist etwas, was ich meinen Kindern einmal ermöglichen möchte. Es ist wichtig zu wissen, dass es nicht nur die Schweiz gibt, sondern noch eine ganze Menge mehr.
Was mich in meinem Leben stark prägte, sind die Strassenkinder und -tiere in Kolumbien. An die denke ich heute noch und erzähle davon, wenn ich wieder mal das Gefühl habe, uns geht es hier zu gut. Das Elend dort beeindruckte mich enorm. Meine Kindheit empfinde ich heute noch als wahnsinnig schön. Uns ist sehr viel ermöglicht worden. Ich erinnere mich wie meine Cousinen, die im Thurgau aufwuchsen, immer das Gefühl hatten, dass wir arm dran waren, weil wir ständig umzogen. Das sehe ich auf keinen Fall so. Unser Zuhause war dort, wo unsere Eltern waren – egal wo auf dieser Welt wir wohnten.
Die Familie wuchs durch all das extrem stark zusammen. Noch heute habe ich ein sehr enges Verhältnis zu meinen Eltern und Geschwistern. Wir waren nicht stark an einen Ort gebunden, sondern stärkten uns untereinander. Sicher war es nicht immer einfach, gerade wenn es wieder hiess, dass wir erneut umziehen. Wie damals als wir nach Frankreich zogen und kein Wort Französisch sprachen. Es war ein Hosenlupf. Doch vier Monate später redeten wir die Sprache fliessend.
Was ebenfalls entstand, sind Freundschaften. Ich war damals 16 Jahre alt, als ich in Bocholt Deutschland zur Schule ging. Bis heute pflege ich Kontakt zu meiner Freundin von damals. solche Freundschaften lernt man schätzen. Das ist das, was zählt. Man braucht keine 50 Bekannte, sondern Menschen, die einem im Herzen nahestehen. Durch das Aufwachsen in den verschiedenen Ländern wurde ich weltoffen. Das ist das, was ich meinen Kindern weitergeben möchte: Akzeptanz, Respekt und Flexibilität. Sie sollen wissen: Auch wenn es Situationen im Leben gibt, die nicht einfach sind, geht es immer irgendwie weiter!»
VANESSA SACCHET