Vanessa Sacchet im Gespräch mit Rudolf Hofmann

  30.07.2022 Steig

Rudolf Hofmann, geboren am 6. Oktober 1957 in Winterthur, wuchs mit drei jüngeren Schwestern auf. Schon als Kind half er tatkräftig auf dem elterlichen Bauernhof mit, liess sich zum Landwirt ausbilden und übernahm später den Betrieb. Er war stets ein Bewegungsmensch und Mitglied im Turn- und Schiessverein. Am 22. November 2018 veränderte ein schwerer Schicksalsschlag sein ganzes Leben. Ab diesem Zeitpunkt war nichts mehr, wie es einmal war.
Als ich auf den Hof fahre, erwartet mich Ruedi, so wird er von allen genannt, bereits mit seinem Handbike. Er strahlt mich an und begrüsst mich mit einem kräftigen Händedruck – bereit für das Foto. Danach begeben wir uns zum Eingang, wo er das Handbike abnimmt. Mit dem Rollstuhl fährt er voraus und zeigt mir sein Zimmer, das früher als Kuhstall diente. Wir machen es uns draussen auf dem Sitzplatz gemütlich, wo Ruedi mir erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass er heute im Rollstuhl sitzt: «Im Waldstück zwischen Girenbad und Oberschlatt arbeitete ich zusammen mit einem Kollegen. Er führte Holz ab und ich fällte grosse, kranke Eschen. Bei einer machte ich den Fällschnitt und beim Fallen streifte sie eine Weisstanne. Dabei wurde der Baum bei einer faulen Astgabelung aufgespaltet und etwa ein Drittel der Esche stürzte zurück. Ich war gerade am Weglaufen, als mich ein riesiger Ast direkt auf der linken Schulter traf. Mein Rücken brach und ich ging zu Boden. Ich war bei Sinnen, spürte absolut keinen Schmerz, konnte jedoch meine Beine nicht mehr bewegen. Mir war sofort klar, dass ich gelähmt bin.
Mein Kollege reagierte schnell und alarmierte die Rettung. Ein Krankenwagen, die Feuerwehr und die Rega trafen ein. Etwas weiter unten befand sich eine Lichtung. Ich erinnere mich noch daran, dass ein Retter mit Tragbahre vom Helikopter aus an einem Seil zu mir heruntergelassen wurde. Danach weiss ich nichts mehr. Vermutlich wegen der Medikamente, die ich erhielt. Sie wollten mich nach Zürich fliegen, mussten aber wegen des Nebels ins Kantonsspital St. Gallen ausweichen. Zwischenzeitlich wurde meine Frau informiert, die bereits unterwegs zu mir war, da mein Kollege sie persönlich benachrichtigte. Wir konnten uns ganz kurz unterhalten und ich sagte zu Ruth: ‹Ich glaube, ich bin gelähmt.› Dann wurde ich für die fast siebenstündige Operation abgeholt. Es hiess, dass es besser aussehe als erwartet, da die Nervenbahnen gelöst werden konnten. Ich lag fünf Tage in St. Gallen im Spital und wurde danach direkt mit dem Helikopter nach Nottwil geflogen.»

Die Reha in Nottwil dauerte sieben Monate

«Zuerst lag ich auf der Intensivstation und bekam eine Lungenentzündung. Ein Luftröhrenschnitt war nötig und ich erhielt eine Kanüle. Am Anfang konnte ich noch sprechen. Ab dem zweiten Tag war das nicht mehr möglich und ich wurde intubiert. Um zu kommunizieren, gaben sie mir Block und Stift. Da ich schräg liegen musste, war das Schreiben nicht ganz einfach und meine Schrift unleserlich. Sie wollten mich nicht überfordern und nahmen mir die Schreibutensilien wieder weg. So war eine Verständigung nicht möglich. Ganze zwei Wochen lang konnte ich nicht sprechen. Zudem wurde ich einige Wochen künstlich ernährt.
Ich lag sechs Wochen auf der Intensivstation, bis sie mich auf die Abteilung verlegen konnten. Die Kanüle wurde entfernt und ich musste zusammen mit einer Logopädin wieder zu schlucken lernen. Da ich mit Flüssigkeit zu mir nehmen Mühe hatte, geschah das weiter künstlich und ich erhielt nur Müesli zu essen. Erst nach zwei Wochen Reha konnte ich selber trinken. Später kam feste Nahrung dazu. Die Logopädin musste jeweils neben mir sitzen und schauen, dass ich mich nicht verschlucke», erinnert sich Ruedi Hofmann.
Er fügt bei: «Von meinem Zimmer aus hatte ich eine wunderbare Aussicht auf den Sempachersee, die Rigi und den Pilatus. Von jenem auf der Intensivstation konnte ich den Sportplatz und die 400-Meter-Tartanbahn beobachten. Dort sah ich Leute herumrennen und sagte damals zum Chefarzt, dass ich das auch mal wieder tun möchte. Er meinte, dass das mit dem gebrochenen Rücken nicht mehr möglich sei. Mir wurde bewusst, dass ich nie mehr gehen kann. Während der Reha wurde aber klar, dass ich immer ein bisschen mehr an Mobilität zurückgewann. Während meinem Aufenthalt mussten wir uns Gedanken machen, was daheim auf dem Hof alles umgebaut werden muss, damit alles rollstuhlgängig ist, wenn ich nach Hause zurückkehre.
Am 30. Januar 2019 war es so weit. Nach zwei Monaten fuhr mich meine Ergotherapeutin von Nottwil nach Hause, wo meine Frau Ruth und ich gemeinsam mit einem Architekten und jemandem vom behindertengerechten Bauen schauten, was es alles zu tun gibt. Eine Variante wäre gewesen, im Haus eine Hebebühne einzubauen, damit ich zum Schlafen in den oberen Stock gelangen kann. Dort hätte ich jedoch das Bad zusammen mit meiner Frau und unserem Sohn teilen müssen. Ich benötige am Morgen bis zu eineinhalb Stunden im Bad. Das wäre für uns alle keine optimale Lösung gewesen. Die andere Variante war, den Kuhstall komplett umzubauen mit Vorraum, Zimmer, Spitalbett, Bad und Küchenzeile. Die Invalidenversicherung bezahlte einen Teil. Da ich Mitglied der Schweizer Paraplegiker-Stiftung bin, erhielt ich den Maximalbetrag von 250‘000 Franken. Ohne dieses Geld wäre der Umbau gar nicht möglich gewesen.»
Hofmann spürt von der Brust an abwärts nichts. Dennoch plagen ihn Schmerzen, wie Bauchweh oder ein Brennen in den Füssen und im Gesäss. Deshalb muss er viele Schmerztabletten einnehmen. Er sagt: «Vom Spitalbett aus kann ich mich gut allein in den Duschrollstuhl setzen und im Bad damit über die Toilette fahren. Um zu stuhlen, muss ich täglich ein Zäpfchen nehmen und fürs Urinlösen katheterisiere ich mich sieben bis acht Mal während 24 Stunden. Am Anfang geschah hin und wieder ein Malheur. Doch mittlerweile klappt alles ganz gut. In Nottwil sah ich Patienten, die viel schlimmer dran waren als ich. Nach der Reha hatte ich den Unfall psychisch noch nicht ganz verarbeitet. Erst zu Hause wurde mir richtig bewusst, was ich alles nicht mehr tun konnte. Ich benötigte viel Zeit, um mich einzuleben. Auch bin ich ein paar Mal aus dem Rollstuhl gefallen. Heute kann ich sagen, dass ich sehr selbstständig und nicht rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen bin.»

Mit dem Handbike und dem umgebauten Auto unterwegs

«Mein Handbike kann ich direkt an meinem Rollstuhl befestigen. Es ist mit einem Nabenmotor und zwei Batterien ausgestattet. Ist die eine leer, kann ich auf die andere umschalten. So ist es mir möglich, problemlos bis zu vier Stunden damit herumzufahren. Am Abend lade ich alles auf, damit ich am nächsten Tag bei schönem Wetter gleich loskann. Meistens bin ich in Elgg, Hagenbuch, Aadorf, Gerlikon, Guntershausen, Balterswil, Bichelsee und Eidberg unterwegs. Bei schlechtem Wetter nehme ich das Auto. Den Bus konnte ich Occasion für 40‘000 Franken kaufen, der Umbau kostete 46‘000. Unten an der Seite wurde er mit einer Hebebühne ausgestattet, die herausfahrbar ist. So kann ich mit dem Rollstuhl ins Innere gelangen und von dort auf den Fahrersitz, den ich herunterlassen kann, wechseln. Der Bus ist ein Automat. Am Steuerrad hat es einen Knopf, mit dem ich lenken kann, und in der Mitte einen grossen, hohen Hebel, mit dem ich mit meiner rechten Hand Gas gebe und bremse.
Mit den Fahrstunden begann ich bereits während der Reha in Nottwil und musste deshalb daheim nur noch eine Stunde in Anspruch nehmen. Die Prüfung wurde in Zürich im Albisgütli abgenommen. Ich musste 30 Minuten herumfahren und bestand auf Anhieb. Vier- bis fünfmal pro Jahr fahre ich mit dem Auto bis nach Nottwil, um benötigtes Pflegematerial zu holen – oder Material für Reparaturen am Handbike. Dass ich mit dem Auto und dem Handbike unterwegs sein kann, bedeutet für mich absolute Freiheit.»
Lange haderte Ruedi Hofmann nicht mit dem Schicksal. Im Gegenteil: Er arrangierte und fand sich damit ab. Er besitzt eine unglaublich positive Ausstrahlung, die beeindruckt. Ich frage, wie es dazu kam. Er meint: «Mit dem Schicksal hadern bringt nichts. Man macht sich dadurch das Leben nur selbst schwer. Klar gibt es manchmal Situationen, die mich nerven. Gerade wenn ich sehe, was meine Frau und der Junior alles an Arbeit auf dem Hof erledigen müssen. Dann würde ich am liebsten anpacken und mithelfen. Aber es ist wie es ist. Ich kann daran nichts ändern. So helfe ich bei Büroarbeiten, dem Bohnenfädeln und beim Aroniabeeren pflücken – oder ich nehme mein Handbike und mache eine Ausfahrt. Ich bin sehr zufrieden, wie alles gekommen ist. Den Hof übergaben wir im Jahr 2020 unserem Sohn, dem mittleren der fünf Kinder, und er führt ihn in der vierten Generation. Dieses Jahr feiern wir das 100-jährige Bestehen in der Steig. Ich bin froh und glücklich, noch hier zu sein, um alles mitzuerleben.»

VANESSA SACCHET


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