Vanessa Sacchet im Gespräch mit Marianne Siegenthaler
16.03.2024 Hagenbuch, Leute aus der RegionMarianne Siegenthaler, geboren am 12. Juni 1966 in Winterthur, wuchs zusammen mit einem Bruder und einer Schwester auf. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Die gelernte Damencoiffeuse ist selbstständig und arbeitet nebenbei im Entlastungsdienst Schweiz des Kanton Zürich. Dieser ...
Marianne Siegenthaler, geboren am 12. Juni 1966 in Winterthur, wuchs zusammen mit einem Bruder und einer Schwester auf. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Die gelernte Damencoiffeuse ist selbstständig und arbeitet nebenbei im Entlastungsdienst Schweiz des Kanton Zürich. Dieser bietet Unterstützung und Entlastung für Menschen, die aufgrund besonderer Bedürfnisse oder Einschränkungen auf Hilfe angewiesen sind. Die konkreten Leistungen können je nach Bedarf variieren, haben jedoch generell das Ziel, Betroffenen und ihren Familien eine dringend benötigte Auszeit zu gewähren oder bei spezifischen Aufgaben behilflich zu sein.
«Meine Kollegin hatte damals Kontakte zu einer Familie in Winterthur, deren beide Kinder an Autismus litten. Da meine eigenen bereits erwachsen waren und ich mehr freie Zeit hatte, schlug sie vor, dass ich dort in der Kinderbetreuung aushelfen könnte, etwas, das meinem Naturell als hilfsbereiter Mensch entspricht. Von Anfang an war klar, dass mich die Familie nicht bezahlen konnte, da sie bereits Unterstützung vom Entlastungsdienst hatte. Die Situation änderte sich jedoch, als der junge Bub in eine Spezialschule für Autismus wechseln musste. Täglich benötigte er Fahrdienste zur Schule und zurück nach Hause. Dadurch übernahm ich dreimal in der Woche um 8 Uhr den Fahrdienst und brachte ihn zur Schule.
Obwohl ich ursprünglich nicht nach einer Stelle suchte, wurde ich vom Entlastungsdienst angefragt. Anfangs war ich unsicher, ob ich diese Aufgabe übernehmen sollte. Im März 2017 entschied ich mich aber dafür, unterzeichnete den Vertrag und war offiziell angestellt. Für anderthalb Jahre begleitete ich den Jungen zur Schule und erhielt dafür eine angemessene Vergütung. Im Entlastungsdienst sind keine speziellen Qualifikationen oder Vorkenntnisse erforderlich. Wir kümmern uns um die Betreuung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen, unterstützen Erwachsene mit einer Krankheit oder Behinderung, entlasten Angehörige und betreuen Personen im Alter, die beispielsweise beim Kochen Hilfe benötigen. Unser Ziel ist es, Menschen zu entlasten, die teilweise mit ihrer Situation überfordert sind. Dazu gehören auch Familien, die nebst einem behinderten ein weiteres gesundes Kind haben, für das sie zu wenig Zeit aufbringen können. In solchen Fällen übernehmen wir den Schultransport, bieten Spielmöglichkeiten, basteln, kochen und sind einfach für sie da.»
Begleitung mit Herz
«Als ich beim Entlastungsdienst eingestellt wurde, war der obligatorische Supervisionskurs der erste Schritt. Hier hatte ich die Möglichkeit, mit anderen Teilnehmern und einer erfahrenen Sozialpädagogin über familiäre Herausforderungen zu sprechen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Zudem erhielt ich ein Jahresprogramm mit einer Vielzahl von Kursen zu unterschiedlichen Themen wie Autismus, Kinästhetik, Epilepsie, Demenz und anderen Themen, die ich je nach Interesse besuchen konnte.
Beim Entlastungsdienst hatte ich die Freiheit anzugeben, ob ich lieber Kinder oder ältere Menschen betreuen möchte. Die Mitarbeiterin, die mich damals einstellte, betonte, dass sie mich gerne einer Familie zuweisen möchte, in die ich gut passe. Nach einem Schnuppernachmittag im Raum Winterthur, bei dem ich ein gesundes, jüngeres Mädchen und deren zwölfjährige Schwester mit Zerebralparese betreute, stimmte die Chemie auf beiden Seiten. Mit dieser Krankheit werden Symptome beschrieben, die durch Hirnschädigungen vor, während oder nach der Geburt entstanden sind. Die Betroffenen sind im motorischen Bereich stark eingeschränkt. Sie geht einher mit Bewegungsstörungen, Muskelsteife und Spastik.
Seit vier Jahren bin ich nun in dieser Familie tätig. Einmal wöchentlich verbringe ich drei Stunden am Nachmittag bei ihnen. Beide Mädchen besuchen die Schule und ich hole dasjenige mit Beeinträchtigung jeweils vom Schulbus ab. Gemeinsam gehen wir nach Hause. Später, wenn ihre Schwester zurückkommt, betreue ich beide. Gelegentlich darf das gesunde Mädchen Zeit mit ihrem Grossvater oder ihrer Mutter verbringen, damit ich allein etwas mit ihrer Schwester unternehmen kann. Wir kochen zusammen, backen, spielen oder gehen nach draussen, wo sie mit ihrem elektrischen Rollstuhl herumfahren kann. Sie ist für eine nicht allzu lange Zeit in der Lage, mit einem höheren Rollator für Kinder selbst zu laufen. Sie verwendet ihn beim Spielen oder in der Schule. Im Sommer fährt sie gerne mit ihrem Fahrrad.»
Belastung und emotionale Herausforderungen
Die Betreuung der beiden Mädchen bringt mitunter herausfordernde Momente mit sich, da ihre Bedürfnisse stark voneinander abweichen. Mein Ziel ist es, beiden gerecht zu werden, auch wenn dies nicht immer einfach ist. Die Schwester mit Beeinträchtigung ist grobmotorisch veranlagt und hat keine Feinmotorik, während ihre Schwester alles kann. Diese Unterschiede führen gelegentlich zu Ungeduld und Streit, weil sich die eine benachteiligt oder ungerecht behandelt fühlt. Doch wir arbeiten gemeinsam daran, Lösungen zu finden. Trotz der verschiedenen Herausforderungen habe ich eine enge Bindung zu beiden Mädchen und ihrer Familie entwickelt.
Im vergangenen November reiste ich für einen Monat nach Indien und verbrachte dort meine Ferien. Als ich im Januar zur Familie zurückkehrte, spürte ich eine herzliche Wiedersehensfreude. Das jüngere Mädchen umarmte mich und überreichte mir eine extra für mich gemalte Zeichnung. Auch ihre Schwester freute sich sichtlich, mich wiederzusehen. Diese emotionalen Momente zeichnen meine Arbeit in der Familie aus und sind besonders erfüllend.
Obwohl die Vergütung im Rahmen eines normalen Stundenlohns liegt, steht der Gedanke, zu unterstützen und zu helfen, im Vordergrund. Die Flexibilität, die der Entlastungsdienst bietet, ermöglicht es mir, meine Arbeitszeiten nach meinem eigenen Zeitplan zu gestalten. So kann ich der Familie anbieten, auch mal an einem anderen Tag zu kommen, länger zu bleiben oder über Mittag da zu sein, falls dies gewünscht wird. Es sind drei Stunden oder mehr pro Woche, in denen ich die Mutter entlasten kann.
Nach all den Jahren, die ich für die Familie arbeite, spüre ich eine starke Bindung und fühle mich fast wie ein Teil davon. Beim Entlastungsdienst tätig zu sein ist jedenfalls eine grossartige Sache, die ich weiterempfehlen kann. Es werden immer Personen gesucht. Für mich ist die Tätigkeit eine Bereicherung und gleichzeitig ein schöner Dienst, um Gutes zu tun. Ich bin seit sieben Jahre dabei und hatte in dieser Zeit schon sehr viele gute wie auch belastende Momente. Trotzdem geniesse ich diese Arbeit sehr.»
VANESSA SACCHET