Vanessa Sacchet im Gespräch mit Linda Graf
05.10.2024 DickbuchLinda Graf, geboren am 15. Februar 1986 in Zürich, wuchs mit ihrer jüngeren Schwester auf. Sie absolvierte eine Lehre als Kauffrau und schloss ihre Berufsmatura erfolgreich ab. Anschliessend studierte sie Naturheilkunde und arbeitet heute als diplomierte Naturheilpraktikerin TEN in ...
Linda Graf, geboren am 15. Februar 1986 in Zürich, wuchs mit ihrer jüngeren Schwester auf. Sie absolvierte eine Lehre als Kauffrau und schloss ihre Berufsmatura erfolgreich ab. Anschliessend studierte sie Naturheilkunde und arbeitet heute als diplomierte Naturheilpraktikerin TEN in Elgg. Im November 2021 erlitt sie unverschuldet einen schweren Autounfall. Wie sie mit diesem einschneidenden Erlebnis umgegangen ist, erzählt mir die heute 38-Jährige.
«Ich fuhr am Abend von Weisslingen nach Hause, auf einer Strecke, wo eine Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern erlaubt ist. Es war dunkel, als ich plötzlich in einer unübersichtlichen Kurve zwei Lichter auf mich zukommen sah. In diesem Moment dachte ich: Jetzt ist mein Leben vorbei. Im Nachhinein kann ich mich an alles erinnern, bis auf den Aufprall selbst. Ich glaube, dieser wird von meinem Gehirn ausgeblendet. Mein Auto drehte sich um die eigene Achse, geriet von der Strasse ab und kam schliesslich auf einer Wiese zum Stillstand. Ich hatte Glück, dass hinter dem Unfallverursacher ein Pärchen fuhr. Ihnen ist der Fahrer, der offensichtlich betrunken unterwegs war, bereits im Vorfeld aufgefallen, da er Schlangenlinien fuhr. Sie wollten die Polizei darüber informieren. Doch dafür war es nun zu spät. Nach dem Unfall haben die beiden sehr schnell reagiert und sofort die Rettungskräfte aufgeboten. Die Frau kam zu mir und begann eine Unterhaltung mit mir. Mein erster Reflex war, aus dem Auto auszusteigen, da ich zu diesem Zeitpunkt absolut keinen Schmerz verspürte. Ich hatte in den ersten Momenten nach dem Aufprall das Gefühl, dass ich das alles nur träume.»
Herausfordernde Rehabilitation
«Ich löste meinen Sicherheitsgurt, konnte jedoch die Autotür nicht öffnen. Meinen rechten Arm spürte ich nicht und dachte, er sei abgetrennt. Als ich nach ihm tastete, stellte ich fest, dass er noch da war, jedoch an fünf Stellen gebrochen. Am Unterarm hatte ich einen offenen Bruch, ich hatte mir zwei Rippen gebrochen, meine rechte Kniescheibe war angebrochen, ich brach mir einen Teil eines Wirbels, ein Bauchmuskel war vom Becken abgerissen, und die beiden Oberschenkelknochen waren zertrümmert. Das war mir in diesem Moment nicht bewusst, da ich dank dem Adrenalin in meinem Körper keinen Schmerz verspürte. Die Feuerwehr musste mein Auto aufschneiden. Richtig Angst bekam ich, als sie mich mit all meinen Verletzungen förmlich aus dem Auto herauszerren mussten. Da verspürte ich den Schmerz. Ich wurde auf die Trage gelegt, wo man mir Schmerzmittel verabreichte. Im Spital operierten sie mich die ganze Nacht hindurch, während sieben bis acht Stunden. Nach zwölf Tagen im Spital kam ich für vier Monate zur Rehabilitation nach Bellikon. Zu Beginn konnte ich nicht viel tun, da ich nur meinen linken Arm bewegen konnte. Meinen rechten Arm und beide Beine durfte ich nicht belasten. Nach einigen Wochen konnte ich meine Beine ein wenig strecken, und nach zweieinhalb Monaten durfte ich das erste Mal aufstehen. Ich ging zur Physio- und Ergotherapie, machte Gruppen- und Krafttraining und musste das Laufen komplett neu lernen.»
Auf die Heilung fokussiert
«Wut und Frustration waren kein Thema für mich. Ich habe mir immer wieder gesagt, dass ich das alles schaffe. Jedoch bekam ich nach drei Monaten Reha den Koller und wollte unbedingt nach Hause. Teilweise war ich in einem Dreierzimmer untergebracht und konnte kaum schlafen, da ich nur auf dem Rücken lag und es nicht möglich war, mich auf den Bauch oder zur Seite zu drehen. Diese Situation ging mir an die Substanz. Unterstützung erhielt ich von meinem Partner, meinen Eltern und meiner Schwester. Auch für sie war es eine prägende und sehr belastende Zeit. Sie besuchten mich oft, obwohl Bellikon nicht gerade in der Nähe liegt. Ihre Besuche brachten Freude in den tristen Alltag und den immer gleichen Trott. Ich wollte wortwörtlich wieder auf die Beine kommen, in mein altes Leben zurückkehren und das Geschehene hinter mir lassen. Von meiner Seite entstand nie das Bedürfnis, mit dem Unfallverursacher persönlich in Kontakt zu treten. Nach langer Zeit schrieb er mir eine kurze E-Mail, in der er sich knapp entschuldigte. Für mich passt es so, wie es ist.»
Naturmedizin ergänzend zur Schulmedizin
«Nach Rücksprache mit den Ärzten habe ich einige Medikamente durch Naturheilmittel ersetzt und zusätzliche Präparate eingenommen, um den Knochenaufbau zu beschleunigen, da mein Körper viel leisten musste. Gearbeitet habe ich mit Omega- 3-Fettsäuren, die ebenfalls die Heilung unterstützten. Zudem habe ich auf meine Psychohygiene geachtet, indem ich mich auf das Positive konzentrierte: dass ich diesen Unfall überlebt habe, die Kraft finde weiterzumachen, und ich ein grossartiges Netzwerk habe, das mich unterstützt. Ich habe bewusst darauf geachtet, wie ich meine Gedanken steuere. Zusätzlich habe ich mich mit verschiedenen Heilpflanzen unterstützt. Mittlerweile habe ich sieben Operationen hinter mir und einige Narben an meinem Körper. Ich habe mit Ultraschall, gesunden Ölen und speziellen Faszientechniken gearbeitet, um das minderwertige Narbengewebe elastisch zu machen, damit es mich im Alltag nicht stört. Seit dem Unfall ist der Schmerz ein täglicher Begleiter, mal mehr, mal weniger. Ich habe mich intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt, um Wege zu finden, den Schmerz zu bewältigen und ihn zunehmend zu lindern. Da seit kurzem sämtliches Metall entfernt wurde und ich kontinuierlich daran arbeite, bin ich zuversichtlich, dass ich bald wieder schmerzfrei leben kann.»
Neu gewonnene Achtsamkeit
«Mein Unfall hat mich beeinflusst und mir die Gefahren auf der Strasse deutlich vor Augen geführt. Schon früher war ich stets sehr konzentriert beim Autofahren, aber heute bin ich noch vorsichtiger. Wenn mir jetzt ein Auto entgegenkommt, beobachte ich es mit Argusaugen, um sicherzugehen, dass es auf seiner Spur bleibt. Gleichzeitig vertraue ich darauf, dass die Menschen wissen, was sie tun. Es ist jedoch erschreckend, wie viele während des Fahrens am Handy sind und nicht bei der Sache. Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass nicht noch mehr Unfälle geschehen. Deshalb möchte ich dazu aufrufen: Seid aufmerksam, wenn ihr Auto fährt. Ihr könnt euch und andere gefährden. Unachtsamkeit auf der Strasse kann zu Unfällen führen.»
Graf ist dankbar für all die Institutionen, die sie unterstützt haben, besonders die Helfer vor Ort. Sie meint: «Ich habe viel positiven Zuspruch erhalten. Auch das Mitgefühl meiner Mitmenschen hat mir sehr gutgetan. Am meisten überwiegt die Dankbarkeit, dass ich den Unfall überlebt und wieder in den Alltag zurückgefunden habe. All das Erlebte hat mich verändert. Sowohl als Mensch wie als Therapeutin. Ich sehe vieles aus einer anderen Perspektive, kann mich besser in bestimmte Situationen hineinversetzen und mitfühlen. Der Unfall ist geschehen und lässt sich nicht rückgängig machen. Deshalb versuche ich aus dieser Erfahrung das Beste zu machen und das Positive in den Vordergrund zu stellen.»
VANESSA SACCHET