Vanessa Sacchet im Gespräch mit Jaris Fenner
04.05.2024 Häuslenen, GuntershausenJaris Fenner, geboren am 21. Juni 1996 in Frauenfeld, erlebte seine Kindheit gemeinsam mit seinen drei älteren Brüdern in den Ortschaften Häuslenen und Guntershausen. Der gelernte Konstrukteur entschied sich im Oktober 2020 nach Hiyoshi Tokio zu ziehen. Über die ...
Jaris Fenner, geboren am 21. Juni 1996 in Frauenfeld, erlebte seine Kindheit gemeinsam mit seinen drei älteren Brüdern in den Ortschaften Häuslenen und Guntershausen. Der gelernte Konstrukteur entschied sich im Oktober 2020 nach Hiyoshi Tokio zu ziehen. Über die Beweggründe, die Schweiz zu verlassen und sich vorübergehend in Japan niederzulassen, erzählt mir der sympathische junge Mann.
«Im Alter von 20 Jahren, im Jahr 2017, traf ich die Entscheidung, für sechs Monate in Indien zu arbeiten und daraufhin weitere sechs durch Asien zu reisen. Unter meinen Zielen befand sich auch Japan. Während meinem Aufenthalt hatte ich eine unglaublich bereichernde Zeit und die Idee, mich wenigstens für einige Jahre hier aufzuhalten, liess mich nicht los. Nach meiner Rückkehr in die Schweiz fand ich bei der Firma Burckhardt Compression AG eine Arbeit. Durch einen glücklichen Zufall ergab sich die Gelegenheit, mich beruflich nach Japan versetzen zu lassen.
Ursprünglich kam ich als Technischer Support-Ingenieur für das Unternehmen hierhin und arbeitete drei Jahre in dieser Funktion bei BC Japan. Inzwischen entschied ich mich, einen Karrierewechsel anzustreben und befinde mich derzeit auf der Suche nach neuen beruflichen Herausforderungen im Bereich Data Science und AI. Um mich anfangs in meiner neuen Umgebung zurechtzufinden, setzte ich mich intensiv mit der japanischen Sprache auseinander und besuchte zweimal wöchentlich eine Sprachschule. Der Lehrer fokussierte hauptsächlich auf Grammatik und Redeübungen. Daher musste ich zusätzlich die drei Alphabete aus den Hauptsystemen Kanji, Hiragana und Katakana bestehen sowie das Vokabular im Selbststudium lernen. Ich erreichte ein ausreichendes Level in Japanisch, um problemlos durch den Alltag zu kommen.
Ein grosser Unterschied zum Leben in einer Schweizer Gemeinde ist, dass man hier in Japan kaum Kontakt mit den Nachbarn hat. Die meisten Leute finden ihre Freundeskreise verstreut über die ganze Stadt und dasselbe trifft auch auf mich zu. Es gibt einige Personen, die meinen Aufenthalt bisher besonders prägten: mein enger Freund Shintaro und seine Familie, die immer für mich da sind, wenn ich Hilfe brauche, und natürlich meine Freundin Risa, die ich bereits zwei Monate nach meiner Ankunft in Japan kennenlernte. Seither bereisten und entdeckten wir gemeinsam viel vom Land und sie begleitet mich durch die Höhen und Tiefen des Lebens.»
Tokio: Alltag und kulturelle Feinheiten
«Risa studiert seit letztem September in Chicago und befindet sich deshalb nicht in Japan. Sie wuchs international auf und verbrachte Zeit in Tokio, New York und Singapur. So unterhalten wir uns im Alltag in Englisch. Die Wohnungen in Tokio sind oft extrem klein und in riesigen Wohnblocks.
Ich hatte Glück und lebe allein in einer Mietwohnung mit 40 Quadratmetern im dritten Stock eines kleinen Gebäudes. Das klingt vielleicht nicht gerade riesig, aber in Tokio ist das bereits weit über der durchschnittlichen Wohnfläche. Im Erdgeschoss befindet sich eine Bäckerei, im zweiten Stock ein italienisches Restaurant und ein Haarsalon. Meine einzigen Nachbarn sind ein 85-jähriges Ehepaar. Der grösste Unterschied ist in der Küche zu finden, da diese sehr klein ist und es keinen Geschirrspüler oder Backofen gibt. Die Lebensmittel aus dem Supermarkt sind oft in Verpackungen, die zu gross für eine Person sind. Ich koche dementsprechend viel weniger als in der Schweiz. Vor allem, weil man sehr leicht für fünf bis acht Franken auswärts zu Abend essen kann und das Mittagessen sogar noch günstiger ist.
Japan ist sehr stolz auf die langjährigen Traditionen und Etiketten, die sich im Verlauf der Zeit einbürgerten. Sie werden heute noch gepflegt. Es ist faszinierend, wo all diese kleinen Dinge im Alltag anzutreffen sind. Wenn man hier beispielsweise ein Restaurant oder einen Shop betritt, wird man immer mit einem lauten ‹Irasshaimase› und einer Verbeugung begrüsst. Das bedeutet auf Deutsch ‹Willkommen› oder ‹Hereinspaziert›. Es drückt die Bereitschaft aus, Kunden willkommen zu heissen und ihre Bedürfnisse zu erfüllen.
Auch das Zugfahren hier ist speziell und man unterhält sich ausschliesslich im Flüsterton. Niemand telefoniert und es werden keine Lebensmittel konsumiert. So wird eine ruhige und angenehme Umgebung gewährleistet. Japanische Züge können in Stosszeiten sehr voll sein, insbesondere in Grossstädten. Es ist üblich, dass Mitarbeiter in weissen Handschuhen die Passagiere in die überfüllten Züge schieben, um sicherzustellen, dass die Türen schliessen können.
Japanische Paare verhalten sich oftmals reserviert, da öffentliche Liebesbekundungen gegenüber anderen Leuten als respektlos angesehen werden. Händehalten ist das Maximum, das man im Alltag sieht. Dies hat definitiv einen Einfluss darauf, wie Risa und ich uns in der Öffentlichkeit verhalten. Dies sind nur einige Beispiele. Es gibt so viele kulturelle Kleinigkeiten, ich könnte stundenlang darüber reden.»
Reisen, Pünktlichkeit und Gemeinschaftserlebnisse
«Wenn man möchte, gibt es jeden Tag irgendwelche interessanten Veranstaltungen oder Aktivitäten, die man besuchen kann. Das japanische Zugnetzwerk ist für seine aussergewöhnliche Pünktlichkeit bekannt. Züge halten sich strikt an Fahrpläne und Verspätungen sind äusserst selten. Mit dem Bullet-Train kann man riesige Strecken in kürzester Zeit zurücklegen. Der Begriff Bullet-Train bezieht sich im Allgemeinen auf die Shinkansen-Züge. Sie können Geschwindigkeiten von über 300 Stundenkilometer erreichen, was sie zu den schnellsten kommerziellen Zügen der Welt macht. Somit habe ich sowohl die Berge als auch den Pazifik in unmittelbarer Nähe. Wir nutzten dies oft und fahren im Winter zum Snowboarden und im Sommer zum Wandern oder Schwimmen.
Ich reiste schon mehrfach geschäftlich nach Hiroshima. Der Atombombenabwurf vom 6. August 1945, während des zweiten Weltkrieges, zerstörte durch die Explosion einen Grossteil der Stadt und zahlreiche Menschen starben an den Auswirkungen von Verbrennungen, Strahlenkrankheit und anderen Verletzungen. Es ist sehr beeindruckend, wie sich die Stadt und ihre Bewohner in den letzten 70 Jahren wieder aufrappelten. Das Hiroshima-Peace-Memorial-Museum ist ein absolutes Muss für jeden, der hierhin reist!
Seit meinem Umzug bin ich ständig unterwegs und selten zu Hause. Dies hat auch mit meinen Freunden zu tun, die ich hier getroffen habe – eine kunterbunt durchmischte Gruppe aus Japanern und Ausländern. Jeder bringt seine eigenen einzigartigen Interessen und kulturellen Hintergründe mit ein. Oft laden wir uns gegenseitig zu einem Bier ein, unternehmen gemeinsam einen Ausflug oder probieren ein neues Restaurant aus.»
Heimwehmomente und Zukunftsüberlegungen
«Heimweh empfinde ich eher selten. Ein Grund dafür sind die wundervollen Menschen, die ich hier kennenlernte. Ich bin fast nie allein und immer beschäftigt. Das trägt definitiv dazu bei, mich wohlzufühlen. Klar vermisse ich meine Familie und Freunde in der Schweiz. Besonders während festlicher Anlässe wie Geburtstage, Weihnachten oder Hochzeiten verspüre ich gelegentlich Heimweh. Ich würde gerne persönlich an all diesen Ereignissen teilnehmen, jedoch erfordert es jedes Mal eine genaue Planung, um herauszufinden, welche realisierbar und welche leider nicht möglich sind. Nebst diesen Momenten sehne ich mich vor allem nach Schweizer Käse, insbesondere nach Raclette und Fondue.
Trotzdem darf ich sagen, dass die kulinarische Vielfalt hier in Japan riesig ist und die Auswahl an Gerichten schier grenzenlos. Meine persönlichen Favoriten sind unter anderem Sukiyaki, ein köstlicher Eintopf mit Gemüse, Fleisch und einer süsssauren Brühe, sowie Katsudon, Reis mit paniertem Schweineschnitzel und Omelette. Diese kulinarischen Entdeckungen tragen dazu bei, mich über die kleinen Heimwehmomente hinwegzutrösten.»
Auf meine Frage hin, ob er und Risa planten, längerfristig in Japan zu bleiben, oder es Überlegungen gebe, zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukehren, erhalte ich folgende Antwort: «Derzeit liegt mein Fokus ganz auf meinem geplanten Karrierewechsel und ich bevorzuge, mich auf ein Ziel nach dem anderen zu konzentrieren. Das ist momentan meine oberste Priorität und ich bin entschlossen, dies zu erreichen. Da Risa zurzeit in Amerika studiert, sprachen wir auch darüber, ob wir uns ein Leben in den Vereinigten Staaten vorstellen könnten. Die Rückkehr in die Schweiz war ebenfalls ein Thema. Allerdings sind wir noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem wir diese weitreichende Entscheidung treffen möchten.»
VANESSA SACCHET