Vanessa Sacchet im Gespräch mit Gina Pedicillo
21.05.2022 Leute aus der RegionGina Pedicillo, geboren am 12. Februar 1991 in Ilanz, Graubünden, wuchs zusammen mit zwei Geschwistern auf. Die gelernte Fachfrau Betreuung ist verheiratet und spricht Deutsch, Englisch, Romanisch und beherrscht die Gebärdensprache. Weltweit gebrauchen Letztere etwa 70 Millionen Menschen. Nicht alle Gehörlosen haben die Gebärdensprache gelernt. Pedicillo beherrscht sie seit acht Jahren und erzählt, wie es dazu gekommen ist.
«Als ich ins Unterland kam arbeitete ich in Zürich, doch die Stelle sagte mir nicht zu. Ich machte mich auf Arbeitssuche, bewarb ich mich im Gehörlosendorf in Turbenthal und schnupperte dort. Eigentlich wollten sie mich anstellen, entschieden sich dann aber für eine Sozialpädagogin und nicht für mich, als Fachfrau Betreuung. Die Chefin dort meinte, dass sie gerne meine Bewerbungsunterlagen behalten möchte, falls erneut eine Stelle frei werde. Dann würde sie sich gerne bei mir melden. Ich suchte weiter und fand etwas im Altersheim auf der Demenzabteilung. Einige Monate später kontaktierte mich die Chefin des Gehörlosendorfs tatsächlich und ich erhielt eine Stelle als Betreuerin.
Die Gebärdensprache lernte ich erst hier – von einer Mitarbeiterin, die selbst gehörlos ist und die Gebärdensprache beherrscht. Sie gab einmal die Woche für eine halbe Stunde einen Kurs fürs Personal. Den Rest lernte ich, währenddem ich die Gebärdensprache anwendete. Eigentlich geht es relativ schnell, bis man sie beherrscht. Vor allem wenn man mit Gehörlosen zusammenarbeitet und die Sprache täglich anwendet. Ich würde sagen, man lernt sie fast automatisch. Die Grundkenntnisse beherrscht man nach etwa drei Monaten. Die Gebärdensprache ist vergleichbar mit Schweizerdeutsch: Jeder Kanton hat seine eigenen Gebärden. Es gibt aber auch viele, die sich sehr ähnlich sind. Im Gehörlosendorf Turbenthal entwickelten wir in all den Jahren eine Art eigene Gebärdensprache. Ich arbeite auch mit Hörenden und wir sind kunterbunt gemischt. Der grösste Teil der Menschen dort ist gehörlos und hat zusätzlich noch eine weitere Beeinträchtigung. Es gibt Menschen, die im Dorf wohnen und arbeiten. Wiederum andere wohnen daheim bei den Eltern, kommen von auswärts und arbeiten tagsüber bei uns.»
Darauf gilt es bei der Kommunikation zu achten
«Es gibt Regeln, die man ganz klar einhalten muss, um die Kommunikation zu erleichtern. Der ständige Augenkontakt muss vorhanden sein, damit sie uns überhaupt verstehen können. Viele der Gehörlosen lesen von den Lippen ab. Deshalb ist es umso wichtiger, dass man sich ansieht. Die Zigarette im Mundwinkel, Kaugummi im Mund oder ein vom Bart zugewachsenes Gesicht erschweren das Absehen von den Lippen erheblich. Wichtig ist auch zu wissen, dass man nicht einfach jemandem im Vorbeigehen etwas zurufen kann. Gehörlose können schliesslich auch nicht sehen, was hinter ihnen gesprochen wird. Am Anfang kam es öfter vor, dass ich zum Beispiel einfach hinterherrief: ‹Hey warte kurz, ich gebe dir noch etwas mit.› Ich merkte dann schnell, dass das nicht funktioniert. Auch sollte darauf geachtet werden, dass das Gesicht gut beleuchtet ist. Es sollte vermieden werden, sich ins Gegenlicht zu stellen, zum Beispiel vor ein Fenster oder eine andere helle Lichtquelle, da Gehörlose sonst beim Absehen von den Lippen geblendet werden.
Wichtig ist, immer genügend Abstand zu halten, damit man gut und sauber Gebärden kann und es verstanden wird. Bei Gehörlosen stehen beispielsweise nie Flaschen auf dem Tisch, weil es das Sichtfeld für die Kommunikation beeinträchtigt. Wenn man jemanden ansprechen möchte, ist es angenehm für die nicht hörende Person, wenn man sie an der Schulter antippt. Man sollte sie aber nie von hinten berühren. Das kann die Person erschrecken. Sie hört nicht, wenn sich jemand annähert.
In der Gebärdensprache können schnell Missverständnisse entstehen, da es viele Gebärden mit verschiedenen Bedeutungen gibt. Schwierig wird es, wenn man zur Gebärde das Mundbild nicht sehen kann. Gerade weil man jetzt öfters Masken tragen muss, kann mal etwas missverstanden werden.» Ich frage Gina Pedicillo, ob sie auch schon Mal ausserhalb der Arbeit von der Gebärdensprache Gebrauch machte. Sie meint lachend: «Ja vor allem im Ausgang, wenn es sehr laut ist und man sich anschreien muss. Da ist das Kommunizieren in Gebärden sehr nützlich. Aber auch während dem Arbeiten kann es ein Vorteil sein. Wenn ich telefoniere und gleichzeitig einer Arbeitskollegin etwas mitteilen möchte, gebärdet man dem anderen, was man sagen will. Das ist sehr praktisch. Wir wenden die Gebärdensprache an, wenn Hörende anwesend sind und wir untereinander kommunizieren, was die Hörenden nicht mitbekommen sollen.»
Wie ein Arbeitstag in etwa abläuft, erklärt die Betreuerin wie folgt: «Bei uns läuft grundsätzlich immer sehr viel. Morgens unterstütze ich die Person, die Hilfe beim Aufstehen, der Morgenpflege, beim Frühstück und beim Zähneputzen benötigt. Dann gehen sie zur Arbeit und wir nutzen die Zeit für Büroarbeiten – bis zur Pause, wo wir erneut die Personen begleiten. Wir schauen, dass sie etwas trinken und zur Toilette gehen, bis sie wieder ihrer Arbeit nachgehen. Dann bleibt uns Zeit, um weitere Arbeiten zu erledigen, bis wir am Mittag in den grossen Speisesaal gehen und die Leute begleiten. In der hauseigenen Küche wird das Mittagessen zubereitet – unter anderem von Gehörlosen, die hier arbeiten. Man kann sogar eine Lehre absolvieren. Am Nachmittag gehen sie erneut zur Arbeit und wir erledigen währenddessen andere Dinge bis zur Übergabe vom Früh- zum Spätdienst. Die Schichtarbeit bin ich mich gewohnt, da ich seit meinem 18. Lebensjahr in der Betreuung tätig bin. Ich kenne es nicht anders und kann es mir gar nicht anders vorstellen.»
Die Gebärdensprache zu beherrschen, ist ein Privileg
«Die Gehörlosenkultur ist eine eigene Welt. Durch das Beherrschen der Gebärdensprache habe ich Zutritt dazu erhalten. Ich habe eine ganz andere Sichtweise kennengelernt und viele neue, spannende Menschen getroffen. Gehörlose begreifen die Welt mit den Augen und kommunizieren mit den Händen. Ich beherrsche jedoch die Gebärdensprache noch lange nicht und lerne immer wieder dazu. Manchmal, wenn ich Fernsehschaue und eine Sendung in Gebärdensprache gezeigt wird, bleibe ich hängen und versuche das gezeigte nur anhand der Gebärden zu verstehen. Das ist extrem schwierig. Den Ton stelle ich dazu nicht extra ab, blende ihn aber für mich aus und versuche mich nur auf das Gebärden zu konzentrieren, um dann festzustellen, dass ich nicht alles verstehe. Das ist echt schwierig. Da bewundere ich die Bewohner und Arbeitskollegen.
Gewisse Worte verstehe ich, aber alles zu verstehen ist unmöglich. Obwohl ich täglich die Gebärdensprache anwende und wir im Grossen und Ganzen mehr oder weniger dasselbe Kommunizieren, gibt es immer wieder Situationen, in denen ich merke, dass ich mit meiner Gebärdensprachkompetenz an den Anschlag komme. Vor allem, wenn es um Themen wie Versicherungen, Ämter und Gesetze geht, die man nicht jeden Tag braucht. Da stosse ich an meine Grenzen und habe keine Ahnung wie die Gebärden sind. Klar hätte ich die Möglichkeit, weitere Kurse zu besuchen. Unsere Leute am Arbeitsplatz sind sehr hilfsbereit. Wenn ich irgendwo anstehe und nicht weiterweiss, zeigen und erklären sie es mir gerne.
Wie bereits erwähnt, ist es nicht allzu schwierig, sich die Gebärdensprache anzueignen. Wenn ich hörenden Leuten erzähle, dass ich im Gehörlosendorf Turbenthal arbeite, ist die erste Reaktion immer: ‹Dort ist es bestimmt immer sehr leise.› Nein, so ist es nicht. Im Gegenteil. Gehörlose sind nicht stumm. In keinster Weise. Sie hören aber den Lärm, den sie selbst verursachen, nicht.»
Zum Schluss möchte die Betreuerin den Leserinnen und Lesern noch etwas mit auf den Weg geben: «Wenn man auf Nichthörende stösst, sollte man keine Angst vor Konfrontation haben und einfach versuchen, sich zu verständigen. Man kann mit dem ganzen Körper kommunizieren. Irgendwie funktioniert es immer.» Sie fügt abschliessend bei: «Was mir am meisten an meinem Beruf gefällt, ist die Zusammenarbeit mit den Gehörlosen. Allgemein finde ich, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung viel herzlicher und dankbarer sind. Man kann ihnen mit wenig eine grosse Freude bereiten. Das gefällt mir und schätze ich sehr. Es kommt enorm viel zurück!»
VANESSA SACCHET