Tödliche Spirale aus Gier, Missgunst und Verzweiflung
01.10.2024 ElggDie Handlung von «Romeo und Julia auf dem Dorfe» ist bekannt. Auch 150 Jahre nach seiner Entstehung wirkt Gottfried Kellers Klassiker erschreckend modern. Das Theater des Kantons Zürich präsentierte die Novelle in einer Fassung der Autorin Dagrun Hintze – sicher ...
Die Handlung von «Romeo und Julia auf dem Dorfe» ist bekannt. Auch 150 Jahre nach seiner Entstehung wirkt Gottfried Kellers Klassiker erschreckend modern. Das Theater des Kantons Zürich präsentierte die Novelle in einer Fassung der Autorin Dagrun Hintze – sicher ein Höhepunkt der Theatersaison.
Ist das bekannte Ensemble zu Gast, sind Erwartung und Vorfreude gross. Ob das auch auf die vielen Jugendlichen zutraf, die sich vor dem Werkgebäude und im Foyer versammelten, ist ungewiss. Seklehrer Daniel Hafner, der mit drei Oberstufenklassen aus Affeltrangen angereist war, erzählte, dass der Dichter William Shakespeare aktuelles Lehrthema sei. Dass «Romeo und Julia» nun gerade aufgeführt werde, sei ein Glücksfall. Angesprochen auf die kleinen gelben Reclam-Büchlein schmunzelte Hafner – wem sind sie nicht in bester Erinnerung? Anders als das übrige Publikum dürften sich die Jugendlichen im Nachgang noch vertieft mit der Handlung befasst haben.
Diese spielt nach der Novelle von Gottfried Keller aus dem Jahr 1856 in Seldwyla und dreht sich um den erbitterten Streit zweier Bauernfamilien, deren Kinder sich trotz Feindschaft ineinander verlieben und ein tragisches Ende finden. Zu Beginn amüsieren sich die Bauern, die Stimmung ist locker – man bemächtigt sich, jeder von seiner Seite her, eines Ackers, der weder Bauer Manz noch Bauer Marti gehört. Als der Acker von Amtes wegen versteigert wird, überbieten sich die beiden, bis schliesslich Manz den Zuschlag erhält und das Land in seinen Besitz übergeht. Er verlangt von Marti, dass dieser den unrechtmässig bewirtschafteten Teil umgehend räumt, da ja jetzt er, Manz, der Eigentümer sei. Marti weigert sich und pocht auf das Gewohnheitsrecht. Ab diesem Moment dreht sich die Spirale von Gier, Missgunst, Zerstörung und Verzweiflung unaufhaltsam bis zum bitteren Ende.
Eine Laune, ernsthafter als jeder Ernst
Wegen Rechtsstreitigkeiten geraten beide Parteien in finanzielle Schieflage: Die eine wegen der Honorare und die andere, weil die Justiz das Land blockiert und es nicht bewirtschaftet werden kann und somit keine Erträge abwirft. Der Staat holt sich mit unbarmherziger Härte, was ihm zusteht. Marti verliert erst die Frau, dann den Verstand, den Hof und am Ende die Tochter. Manz ergeht es nicht besser, er verliert den Hof, die Würde und zum Schluss den Sohn. Mitten in diesem Drama stehen die beiden Kinder Fränzi und Sali, die spüren, dass sie füreinander bestimmt sind, aber trotzdem nie zusammen sein können. Einen einzigen Tag wollen sie ihre Liebe geniessen und nicht an ihr Unglück denken; sie wollen tanzen, essen und trinken, Spass haben. Um ihrem Schicksal zu entfliehen, folgen sie den Rechtlosen in den Wald, angeführt vom «Geiger», dem ordentlichen Besitzer des verfluchten Ackers, der das ganze Drama ausgelöst hat.
Auch die fröhliche ungebundene Gesellschaft im Wald vermag die beiden nicht zu trösten oder zu beruhigen – Ihr Heil sehen sie einzig und allein im gemeinsamen Tod. «Die Zeit bliebe stehen, wir könnten fliegen oder tauchen, ohne je Luft holen zu müssen. Wir wären zwei in einem Haus, zwei Hälften, die gemeinsam ein Ganzes ergeben. Für immer.» Als letzte Stätte entwenden sie ein Heuschiff und fahren damit die ganze Nacht flussabwärts, um sich am Morgen fest umschlungen von den kalten Fluten verschlingen zu lassen. Sie gaben einer Laune nach, die ernsthafter als jeder Ernst war.
Auch die aktuelle Aufführung endet bitter
In den Zeitungen war tags darauf zu lesen: «Zwei junge Leute, Kinder zweier zugrunde gegangener Familien, die in unversöhnlicher Feindschaft gelebt, haben im Wasser den Tod gesucht.» Nach dieser Verlautbarung war es einen Moment mucksmäuschenstill im Saal. Das bittere Ende, dass es tatsächlich zum Äussersten gekommen war, musste vom Publikum kurz verdaut werden, obwohl der Schluss des Stücks bekannt ist. Vielleicht war da doch noch die leise Hoffnung, dass es in der präsentierten neuen Fassung anders hätte kommen können ...
«Warum sind sie denn nicht einfach zusammen abgehauen, anstatt sich umzubringen?» Diese aus heutiger Sicht berechtigte Frage mag sich manch ein Jugendlicher im Saal gestellt haben. So betrachtet war früher nicht alles besser als heute. Gut haben sich gewisse Dinge verändert und gut, war es «nur» ein Theaterstück. Darauf – und auf die grossartige, ergreifende und ebenso beklemmende Darbietung – haben Gäste, Veranstalter und Schauspielende am Ende im Foyer noch gemütlich angestossen.
MARIANNE BURGENER