Slow-down sorgt in Wittenwil erneut für kochende Gemüter
04.10.2025 WittenwilTempo 30 rückt näher und sorgt erneut für hitzige Diskussionen. Messungen zeigten auf den Hauptachsen Werte bis 45 Kilometer pro Stunde, weshalb der Gemeinderat bauliche Massnahmen vorschlägt. Besonders emotional wurde die geplante Entfernung des Fussgängerstreifens ...
Tempo 30 rückt näher und sorgt erneut für hitzige Diskussionen. Messungen zeigten auf den Hauptachsen Werte bis 45 Kilometer pro Stunde, weshalb der Gemeinderat bauliche Massnahmen vorschlägt. Besonders emotional wurde die geplante Entfernung des Fussgängerstreifens debattiert.
Derselbe Ort, dasselbe Thema, die gleichen Referenten; es unterschieden sich Jahr und Präsentation: Das Vorhaben, Tempo-30 im ganzen Dorf einzuführen, ist seit der ersten Information vorangeschritten. Inzwischen liegen konkrete Umsetzungsvorschläge des Gemeinderats auf dem Tisch.
Kurz vor acht Uhr füllte sich die kleine Turnhalle bis auf den letzten Platz. Vor dem Eingang verteilten zwei Mitglieder des Dorfvereins Wittenwil Weiern süssen Wein in Pappbechern – wohl in der Hoffnung, die Gemüter vorsorglich etwas zu besänftigen. Ramona Müller begrüsste im Namen des Dorfvereins und übergab das Wort Gemeinderat Stefan Mühlemann, Ressort Verkehr und Sicherheit und Präsident der zuständigen Kommission. Er stellte weitere Behördenmitglieder im Saal vor, die bereits bei der ersten Veranstaltung dabei gewesen waren. «Neu ist Thomas Buhl vom Ingenieurbüro Widmer in Frauenfeld. Er ist seit 20 Jahren unser Verkehrsplaner und begleitet Vorhaben wie dieses.»
Buhl erklärte als erstes die grundsätzlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zur Einführung von Tempo- 30-Zonen. «Die Gemeinden sind nicht befugt umzusetzen, was sie wollen. Sie müssen sich an Vorgaben auf Kantonsund Bundesebene halten.»
Allen temporeduzierten Verkehrswegen liege das Bedürfnis nach Sicherheit zugrunde, ausserdem steige die Wohnqualität und sinke die Lärmbelastung. Die Sicherheitsrelevanz untermauerte eine Statistik der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) am Beispiel des Bremswegs: Ein Fahrzeug mit 50 Stundenkilometern braucht 41 Meter bis zum Stillstand, eines mit Tempo-30 nur deren 21.
Voraussetzungen: Wann bauliche Massnahmen nötig sind
Damit in einer Gemeinde Tempo-30-Zonen errichtet werden können, müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein. So unterscheidet der Kanton zwischen «Nicht verkehrsorientierten und verkehrsorientierten Strassen». Für die ersteren reicht eine vereinfachte Begründung. Für die verkehrsorientierten, die Hauptverkehrsachsen, ist ein Gutachten mit Auflistung der Gründe notwendig. «In Wittenwil handelt es sich grossmehrheitlich um nicht verkehrsorientierte Strassen. Das heisst, sie können in einem vereinfachten Verfahren beruhigt werden, ohne dass viele Gründe aufgeführt werden müssen», so Buhl weiter. Eine geschwindigkeitsbeschränkte Strasse weise diese Merkmale auf: «Sie muss innerorts sein, sie muss durch Eingangstore klar als Tempo-30-Strasse erkennbar sein, es herrscht generell Rechtsvortritt und sie hat keine Fussgängerstreifen.»
Eine wichtige Voraussetzung für einschneidende Anpassungen des Strassenraums ist der sogenannte «V85». Dieser Wert bezeichnet die Geschwindigkeit, die von 85 Prozent der Fahrzeuge auf einer bestimmten Strecke nicht überschritten wird. Der V85-Wert ist eine anerkannte verkehrstechnische Kenngrösse. «Im Kanton Thurgau wurde der Wert auf 43 Stundenkilometer festgelegt. Liegt der V85 über 43, dann braucht es zwingend flankierende bauliche Massnahmen, wie etwa Berliner Kissen», erklärte Buhl den zentralen Richtwert.
Auf der Zimmerplatzstrasse wird zu schnell gefahren
Zwischen dem 24. Juni und 1. Juli 2024 wurden an zwei Achsen Messungen durchgeführt. Auf der Zimmerplatzstrasse lag die ermittelte Geschwindigkeit bei 85 Prozent der Fahrzeuge (V85) bei 45 Kilometer pro Stunde, wobei von Osten 1500 und von Westen 2000 Fahrzeuge gezählt wurden. Auf der Aadorferstrasse zeigte die Messung von Norden her einen Wert von 39 bei 2000 Fahrzeugen, von Süden her lag er bei 36 Kilometer pro Stunde bei 1750 gemessenen Autos. Ein Wert von V45 erfordere bauliche Massnahmen, wie Buhl weiter ausführte. Der Gemeinderat schlägt deshalb vor, nach dem Eingangstor ein Berliner Kissen auf der Zimmerplatzstrasse anzubringen, ergänzt durch Bodenmarkierungen. Später kam aufgrund der Diskussion ein zweites Kissen auf der Aadorferstrasse vor der Einmündung der Scheuerstrasse hinzu.
Hinter allen Tempo-50-Tafeln sollen neue Schilder mit 30 in rund 20 Metern Abstand installiert werden. Ob die bestehenden dabei nach aussen verschoben werden, ist noch nicht definiert. Das Ziel sei ein Wert von V38 im gesamten Wittenwiler Siedlungsgebiet. Für Gebäude, die ausserhalb stünden, würde sich nichts ändern. Besonders für das alleinstehende Haus an der Wängistrasse ein Nachteil, wie die Bewohnerin mehrfach an diesem Abend klagte – sie wünscht sich die Reduktion wenigstens auf 50 bereits weiter ortsauswärts.
In der zweiten Variante schlug der Gemeinderat seitliche Verengungen mit Markierungen und Pfosten vor, um den einfahrenden Verkehr abzubremsen. In beiden Vorschlägen würde der Fussgängerstreifen entfernt, was in der Fragerunde zu aufgeladenen Voten führte. Der Gemeinderat empfahl die Version «Berliner Kissen» – diese sei bereits in anderen Ortsteilen Aadorfs erfolgreich realisiert worden und stelle weder für Landwirtschaftsfahrzeuge noch für den Schneeräumungsdienst ein Problem dar.
Einwende- und Einsprachemöglichkeiten
Die nächste Folie zeigte das umfangreiche Verfahren auf, das nun ansteht: Zehn Schritte, zweimal hat die Bevölkerung Einwendungs-, respektive Einsprachemöglichkeit. Einwendungen sind keine förmlichen Einsprachen. Anlässlich der öffentlichen Publikation des Vorhabens sammelt die Behörde Anregungen, Einwände und Bedürfnisse; Der Gemeinderat versprach, mit Einwendern das Gespräch zu suchen. Um später Einsprache gegen Verkehrsmassnahmen zu erheben, muss die öffentliche Auflagefrist beachtet und die Einsprache schriftlich und begründet bei der Gemeindebehörde oder dem zuständigen Departement eingereicht werden. Wird eine Einsprache abgelehnt, können für den Einsprecher Kosten anfallen – ein Fakt, den sowohl Buhl wie Mühlemann betonten. «Für die projektierte Einführung von Tempo-30 ist entsprechend Budget eingeplant, die Gemeindeversammlung wird noch darüber zu befinden haben. Wenn alles reibungslos läuft, können wir die verschiedenen Massnahmen bis Sommer nächsten Jahres umsetzen,» erklärte Mühlemann den Zeitplan und eröffnete die Fragerunde.
Verhältnisblödsinn oder Chance?
Dass es emotional zu und hergehen würde, war nach der ersten Versammlung im Mai 2024 zu erwarten. Schon damals wurde heftig diskutiert; am zweiten Anlass sollte es nicht anders sein. Besonders zu reden gab die geplante Entfernung des Fussgängerstreifens. Dieser diene den Schulkindern als Orientierung, wo die Strasse zu queren sei. Für die einen Hilfestellung, für den Fachmann ein Sicherheitsrisiko.
Es war aber nicht nur diese gelbe Farbe auf dem Asphalt, an der sich die Gemüter erhitzten. Vielmehr der Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Statistiken und Studien wurden verlangt. Buhl verwies mehrmals darauf, dass es eine Tatsache sei, dass mit Tempo-30 weniger Unfälle mit schwerwiegenden Folgen zu beklagen seien als mit 50. Eine Anwohnerin an einer der Hauptstrassen sieht in Tempo 30 die Chance, dass Wittenwil als Abkürzungsroute weniger attraktiv wird.
Die Einwände der Gegner – sie wollten nur teilweise Beschränkungen oder den Status quo beibehalten, weil es ohnehin schwierig sei, zu schnell durchs Dorf zu fahren – konnten die Mehrheit der Anwesenden nicht überzeugen. Thematisiert wurde erneut die Umfrage des Dorfvereins vom Frühling 2024. In persönlichen Gesprächen wurde damals ermittelt, wie die Bevölkerung einer Temporeduktion gegenübersteht. Eine grosse Mehrheit der Befragten sprach sich dafür aus.
Fragen wie «Wo ist denn das Problem, wenn man in Wittenwil nur noch 30 fahren darf?» und «Wird um die Einführung in anderen Gemeinden auch so ein Theater gemacht», zeigen, wie emotional die Debatte geführt wurde und wohl noch weiterhin geführt wird.
Wirkliche Nachteile oder griffige Gegenargumente tauchten aber während der Veranstaltung keine auf. Sowohl der Zeitverlust von ein paar Sekunden wie auch eine vermehrte Lärmbelästigung bei der Beschleunigung nach passieren eines Kissens seien vernachlässigbar, waren sich die Fachleute einig.
«Wenn alle dagegen sind, blasen wir das Vorhaben ab. Aber davon gehe ich nicht aus», erklärte Mühlemann nach fast zwei Stunden gegen Ende des Anlasses. «Sonst machen wir weiter. Die nächste Kommissionssitzung findet im November statt, danach geht das Geschäft an den Gemeinderat.» Sobald die Pläne öffentlich im Gemeindehaus oder online einsehbar sind, wird die Bevölkerung über diverse Kanäle informiert und kann ihre Rechte wahrnehmen.
MARIANNE BURGENER