Selbstbestimmtes Leben – selbstbestimmtes Sterben
16.09.2025Sterbehilfe polarisiert – kaum ein Thema berührt so stark persönliche Überzeugungen und Erfahrungen. In diesem Interview schildert ein Exit-Begleiter seine Sicht: über Selbstbestimmung, palliative Pflege und die Rolle der Angehörigen.
Auslöser, ...
Sterbehilfe polarisiert – kaum ein Thema berührt so stark persönliche Überzeugungen und Erfahrungen. In diesem Interview schildert ein Exit-Begleiter seine Sicht: über Selbstbestimmung, palliative Pflege und die Rolle der Angehörigen.
Auslöser, vertieft über die Thematik zu berichten, war ein Leserbrief eines Aadorfer Hausarztes im Juni. Im Schreiben äusserte er sich dezidiert gegen jegliche Art der Sterbeunterstützung durch Dritte. Das Anliegen polarisiert und viele haben ihre ganz persönliche Meinung dazu. Daher haben wir einem Befürworter – sowie dem eingangs erwähnten Arzt als Gegner – dieselben Fragen zukommen lassen. Die Antworten hätten einander als Pro und Contra gegenübergestellt werden sollen. Leider haben wir bis heute, trotz mehrmaliger Nachfrage, nur die Stellungnahme von Nick Bühler vom Verein Exit erhalten. Der Winterthurer begleitet Exit-Mitglieder in den Freitod und berät Menschen, die sterben möchten.
Was bedeutet für Sie persönlich ein würdiges Lebensende?
Selbstbestimmt darüber entscheiden zu dürfen, welchen Weg ich gehen möchte: Den der palliativen Pflege oder den des assistierten Suizids. Dies ist abhängig von der Krankheit, den Symptomen und der daraus folgenden Lebensqualität. Beide Wege immer im Kreise meiner Familie. Bei Verlust der Urteilsfähigkeit, zum Beispiel durch einen schweren Unfall, habe ich eine Patientenverfügung, damit auch in einer solchen Situation mein Wille durchgesetzt werden kann und meine Familie entlastet wird.
Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Selbst- und Fremdbestimmung am Lebensende?
Wenn das Loslassen der «Weiterlebenden» zu schwer für sie ist. Wenn die Ärzteschaft mich nicht unterstützen würde im Sinne von: «Wir sind fürs Leben zuständig, nicht fürs Sterben!» Und diese einem dann x Therapien andrehen möchte, die lediglich lebensverlängernd sind, aber keinen kurativen Nutzen mehr haben.
Was sagen Sie Menschen, die bei schwerem Leiden ausdrücklich um Hilfe beim Sterben bitten?
Ich frage sie, warum sie sterben möchten. Dadurch erfahre ich mehr über ihre Beweggründe, ihren Leidensweg und somit auch, ob es sich dabei um eine nachvollziehbare, gesunde Bilanzierung handelt. Dies heisst, dass es sich beim Sterbewunsch nicht um ein Symptom der Erkrankung handelt, sondern um eine, wie oben erwähnt, gesunde Bilanzierung.
Welche Rolle spielen Familie oder Umfeld eines sterbewilligen Menschen?
Eine sehr hohe. Sie sind, im Idealfall, in den Sterbeprozess miteinbezogen und begleiten den sterbenden Menschen mitunter über Jahre. Sie bilden eine wichtige Stütze, gehen auf die Situation ein, haben stets ein offenes Ohr und spenden Raum und Zeit. Sie müssen sich nicht nur mit der Endlichkeit der sterbenden Person auseinandersetzen, sondern auch mit ihrer eigenen.
Zudem ist es für die Angehörigen eine grosse Herausforderung, wie sie ihr Leben nach dem Tod ihres geliebten Familienangehörigen weiterleben möchten. Der Sterbende lässt «lediglich» sein Leben los, die «Überlebenden» müssen neben dem Loslassen auch ihr Weiterleben neu ordnen. Es kann aber auch konträre Einflüsse haben, wie zum Beispiel aus fundamentalistisch, religiösen Gründen. Oder schlichtweg wegen des Nicht-loslassen-Wollens. Bei schwer psychisch kranken Menschen ist oft die Familie der Ursprung. In diesen Fällen spielt die sie beim Sterbeprozess oft keine tragende Rolle.
Zwischen Selbstbestimmung und Verantwortung
Wie beurteilen Sie die Entwicklungen in der Gesellschaft: Wächst der Druck auf alte oder kranke Menschen, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen?
Ich denke nicht. Menschen die gut eingebettet sind, geniessen die Zeit mit ihren Liebsten. Wenn dieser Satz kommt, kommt dieser am Schluss, im Sinne von: «...und dann kann man sich das Geld auch sparen». Diesen höre ich aber nie als Hauptgrund, was auch für einen assistierten Suizid als Sterbewunsch nicht ausreichen würde, da er nicht wohlerwogen ist.
Sind Sie der Meinung, aktive Sterbehilfe entspringe dem Zeitgeist und werde verharmlost oder gar verherrlicht?
Sterbehilfe gibt es in der Schweiz schon seit über 40 Jahren. Schon da wollten viele, nach dem Fall von Professor Dr. Hämmerli, seine Dienste in Anspruch nehmen. Ja, es entspringt dem Zeitgeist. Aber einem über Jahrzehnte und nicht einem von «gestern auf heute». In den Ländern in denen Sterbehilfe, in welcher Form auch immer, zugelassen ist, leben die Menschen selbstbestimmter als je zuvor. Dieser Wunsch nach Selbstbestimmung widerspiegelt sich nicht nur im Leben, sondern auch im Sterben. Wir haben bei Exit eine hohe Sorgfaltspflicht und begegnen jedem Fall ergebnisoffen.
Zu unseren Tätigkeiten gehört auch Krisenintervention und Suizidprävention. Ich denke nicht, dass es verharmlost oder gar verherrlicht wird. Solche Aktionen wie die Sarkokapsel dienen der Sache meiner Meinung nach überhaupt nicht und sind fehl am Platz.
Ich glaube, der Mensch hängt am Leben solange die individuelle Lebensqualität stimmt. Sollte diese ins Wanken geraten, muss dies nicht zwingend mit einer Erkrankung einhergehen, es kann viele Ursachen haben. Dass daraus eventuell immer öfter ein Sterbewunsch entsteht, muss auch nicht zwingend mit einer Verharmlosung einhergehen. Vielleicht ist der Zusammenhang auch dort zu suchen, dass vermehrt über das Tabuthema Nummer eins gesprochen wird.
Was sind aus Ihrer Sicht die grössten Risiken oder Gefahren einer erleichterten Sterbehilfe?
Wenn mit «erleichtert» solche Themen wie die Sarkokapsel gemeint sind, dann sehe ich durchaus Risiken wie weniger Kontrollmechanismen, niederschwelligem Zugang und so weiter.
Welche Bedeutung hat die Palliativmedizin in diesem Zusammenhang? Wird sie unter- oder überschätzt?
Weder noch. Die Palliativmedizin/ Pflege hat grosse Fortschritte gemacht. Sterbehilfe und Palliativpflege sind sich immer nähergekommen und arbeiten teils gut zusammen, um den Bedürfnissen der sterbenden Menschen gerecht zu werden.
Der palliative Weg ist immer Bestandteil unserer Gespräche mit unseren Mitgliedern.
Jeder Mensch sollte beide Möglichkeiten kennen und seiner Situation gemäss selbstbestimmt umentscheiden dürfen.
Offen reden, Tabus brechen
Gibt es Situationen, in denen Sie die Meinung der jeweils anderen Seite nachvollziehen können?
Absolut. Es braucht diesen Diskurs, solange dieser konstruktiver Natur ist.
Was würde Ihrer Meinung nach geschehen, wenn die Sterbehilfe in der Schweiz weiter erleichtert oder wieder eingeschränkt würde?
Eine Einschränkung macht keinen Sinn, da wir seit über 40 Jahren mit unserer liberalen Haltung sehr gut fahren. Wir unterliegen einer strengen und hohen Sorgfaltspflicht. Diese setzt sich aus rechtlichen, standesrechtlichen und hauseigenen Richtlinien zusammen. Eine Einschränkung würde lediglich die Selbstbestimmung des Einzelnen einschränken und eventuell den Leidensweg unnötig verlängern.
Eine Erleichterung sehe ich nicht in Bezug auf die Abklärungsphase prä mortem.
Würde der assistierte Suizid nicht als Aussergewöhnlicher Todesfall (AgT) deklariert sein, bräuchte es keine Polizei vor Ort bei der Legal-Inspektion. Was zum einen die Angehörigen weniger belasten und zum anderen die Abläufe vereinfachen würde. Sollte ein Arzt Ungereimtheiten feststellen, kann dieser immer noch die Polizei und die Staatsanwaltschaft einschalten, um ein Verfahren zu eröffnen. Unsere Sorgfaltspflicht bleibt die gleiche, unabhängig ob es als AgT oder als assistierter Suizid deklariert wird.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft im Umgang mit dem Sterben in unserer Gesellschaft?
Das Fragen rund um die Thanatologie vermehrt diskutiert werden. Eine Art Enttabuisierung, damit man eigene Ängste, Rollenbilder, sowie religiöse und kulturelle Vorstellungen reflektieren und diese konstruktiv thematisieren kann. Es ist und bleibt der wirklich einzige Sachverhalt, der jeden Menschen, jedes Lebewesen betrifft. Und doch ist es eins der immer noch grössten Tabuthemen unserer Gesellschaft.
Wir bedanken uns bei Nick Bühler für seine Antworten. Sollten wir die angefragte Meinung der Gegenseite zu einem späteren Zeitpunkt doch noch erhalten, werden wir diese selbstverständlich ebenfalls veröffentlichen.
MARIANNE BURGENER