Papier aus dem Elgger Fahrenbach

  01.03.2022 Elgg

Der Brand, die Cyberattacke und der grosse Abschreiber in der einzigen übriggebliebenen Papierfabrik der Schweiz im luzernischen Perlen können verwirren. Wie unauffällig für Aussenstehende, so dramatisch aber für Eingeweihte muss das Sterben in dieser Branche verlaufen sein? Die Studie des schweizerischen Papiermuseums in Basel von 1964 belegt, dass es früher im Land Dutzende Produktionsstandorte gab. Ursprünglich waren es einfache, handwerklich betriebene Papiermühlen. Sie standen an Flüssen und Bächen, deren Wasser dem Verarbeitungsprozess diente und auch die benötigte Energie lieferte. Die Werkstätten wuchsen zu Betrieben und schliesslich zu Fabriken.
Auch am Fahrenbachtobel in Elgg, wo der Bach vom Schauenberg her dem mechanischen Rad reichlich Wasser zuführte, stand im 19. Jahrhundert eine Werkstatt für die regionale Papierproduktion – mit Ausstrahlung bis in die Stadt Zürich. Eine Wasserkraftanlage ist aber schon viel früher erwähnt.

Erinnerungen an die »Papieri»

Eine Papierfabrik beim Fahrenbachtobel? Vermutlich müssen heute viele auch Interessierte die Frage offenlassen. Bereits in den 1970er-Jahren weiss nur noch ein Teil der älteren Generation davon. Damals erinnerte sich eine Gewährsperson: «Mir ist es, als hörte ich heute noch den Ruf: ‹Es brennt wieder i der Papieri›».
Aus der Zeit um 1900 gibt es erzählte Jugenderinnerungen vom ehemaligen Bäckermeister und Gemeindeammann Heinrich Spiller, an der Kirchgasse wohnhaft. Er soll mit Schmunzeln, aber auch mit Wehmut davon berichtet haben wie sich die Elgger Schulbuben in den 1870er-Jahren viel mit dem Sohn des damaligen Besitzers der «Papieri», Heinrich Peter, in den Gebäulichkeiten und dessen Umgelände tummelten. In der «Schütti» seien damals für die Papierfabrikation ganze Berge von Briefen, Büchern und Schriften gelegen. Mit den aufgeklebten Briefmarken, welche die Knaben aus Unkenntnis herausschnitten, hätten sie einen schwungvollen Handel getrieben. Das Züri 4 und 6, das Basler Tübli, Neuenburger, Genfer Orts- und Rayonmarken hatten unter den Jugendlichen einen Tauschwert von 10 bis 20 Rappen. Solche Marken gab es in den Papierhaufen zu Hunderten. Ein Schulkamerad Spillers hatte eine Züri 4 gegen eine defekte Handorgel eingetauscht.
Mit dem Verschwinden der «Papieri» war für die Elgger Buben ein Stück Romantik vorbei. Wie oft hätten sie angeberisch von einem entdeckten unterirdischen Gang geprahlt. Der führe von der «Papieri» zum Schloss. Und in ihm seien sie mutig 20 Meter weit vorgedrungen. Mit dem «verschütteten» Gang verhielt es sich aber so – meint die Gewährsperson: «Hier wurde in früherer Zeit eine Quelle gefasst, mit deren Wasser die Brunnen in der Obermühle und derjenige beim Pächterhaus in der Untermühle gespeist wurden.»

Die Elgger «Papierer»

Mitte des 19. Jahrhunderts entsteht also eine Werkstatt zur Herstellung des begehrten Papiers. Das vom Schauenberg herabstürzende Bachwasser wird zweifach genutzt. Einerseits als Werkstoff für die Papierherstellung. Dazu als Wasserkraft zum Antrieb eines mechanischen Betriebsrades. Die «Papieri» entsteht an der Strasse, die hinauf zur Steig und weiter nach Waltenstein und Kollbrunn führt. Südlich der Kreuzung, bei den Gebäuden zum Fahrenhof der Familie Müller. Dort hat der Geometer Albert Tuggener in seinen Ortsplan, noch vor dem verheerenden Brand von 1876, die Elgger «Papierfabrick» eingetragen.
Für Kaspar Hauser hat hier zuerst in den 1840er-Jahren der Berner Röthlisberger eine Kartonpapierfabrik eingerichtet – anstelle eines Wohnhauses mit Säge, zwischen den Bleichewiesen (für Leinenstoffe aus Hanf und Flachs) und der Obermühle. Ob sein Unternehmen erfolgreich war?
Die Lokalzeitung weiss schon wenige Jahre später von einer Fahrhabegant des ersten Papierherstellers: «Künftigen Dienstag, den 20. Oktober, lässt Ulrich Egli von Zünikon, als Vogt der Ehefrau des falliten (!) zu Elgg sesshaft gewesenen Johs. Rödlisberger, Papierfabrikant, unter Leitung der unterzeichneten Gantbeamtung über die aus dem Ausfall des Rödlisberger bezogenen Fahrhabe-Gegenstände eine öffentliche Gant abhalten; darunter befinden sich zwei aufgerüstete Betten, zwei Kästen, verschiedene Küchen- und Hausgeräthschaften, mehrere Fässer und Standen, eine Bolzwage, 450 Pfund haltend, eine eiserne und hölzerne Presse, nebst noch vielen andern Gegenständen. Die Gant wird auf dem Rathhause in Elgg abgehalten und nimmt an besagtem Tage morgens 8 Uhr ihren Anfang, wozu höflichst einladet. Für die Gantbeamtung Müller Rathschreiber – Elgg, den 10. Oktober 1845.»
Das Unternehmen soll bereits im Jahre 1846 Johann Jakob Schenkel aus der Obermühle geleitet haben, ab 1858 Metzger Martin Müller. Am Papiergeschäft ist auch der Elgger Heinrich Peter, von dem eingangs die Rede war, beteiligt. Nach einem Dienstbarkeitsvertrag von 1870 gilt von nun an Heinrich Weber, Papierhandlung in Zürich, als Besitzer. In dieser Reihenfolge bemühten sich also während etwas mehr als 50 Jahren die Elgger «Papierer» um die Papierherstellung: Röthlisberger, Schenkel, Knüsli, Müller, Peter, Weber.

Warum entstanden keine erfolgreichen «Start-ups»?

Die Spuren der Papierherstellung in Elgg sind verwischt. Ausser jene in den papierenen archivierten Notariatsprotokollen. Sie handeln von enttäuschenden Ganten, Neuanfängen, Pfändern und Sicherheiten, Rechten, Gesetzen, Verpflichtungen und Einschränkungen. Nichts vom befreienden Aufschwung, von Aussicht auf Erfolg, einem Wirtschaftswunder im Fahrenbach.
Von den einstigen Papierunternehmern findet sich ein Minimum an Biografischem, nichts von ihrem Wagemut, ihren Ängsten, ihrem Scheitern. Sie investierten in eine ungewisse Zukunft. Sie wollten hier etwas erfinden, das es bisher in diesem durch die Jahrhunderte geprägten und wohl auch gelähmten Flecken nicht gab.
Sie wollten am Fahrenbach ein paar Arbeitsplätze schaffen, vielleicht sogar sich selbst und einigen MitMenschen das Leben erleichtern und verschönern? Sie wussten noch nichts vom Flair der heutigen Start-ups.

MARKUS SCHÄR


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