Ohne Mitglieder geht es nicht
30.09.2023 EulachtalDas «Kirchenschiff» manövriert durch nicht ganz einfache Zeiten und sieht sich mit permanentem Mitgliederrückgang konfrontiert. Anlass genug für die Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Eulachtal, sich mittels einer Aktion zu bedanken und aufzuzeigen, was ...
Das «Kirchenschiff» manövriert durch nicht ganz einfache Zeiten und sieht sich mit permanentem Mitgliederrückgang konfrontiert. Anlass genug für die Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Eulachtal, sich mittels einer Aktion zu bedanken und aufzuzeigen, was Mitglieder mit den Steuern alles ermöglichen.
Die Landeskirchen sind seit Jahren mit fortwährendem Mitgliederschwund konfrontiert. Ganz aktuell aus bekannten Gründen stark betroffen sind die Katholiken. Aber auch die Reformierten verlieren regelmässig an Mitgliedern. Die Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Eulachtal lanciert nun eine Kampagne. Sie möchte damit den Mitgliedern für die Treue und die jährlichen Steuereinnahmen danken. Es soll damit aber auch wieder einmal in Erinnerung gerufen werden, was mit diesen Steuern geschieht, wie wichtig sie sind. Auf der Website (s. Box) sind gute Gründe aufgelistet, um in der Kirche zu sein.
Im erfrischend offenen Gespräch nehmen Pfarrerin Johanna Breidenbach und Kirchenpflegepräsidentin Verena Wüthrich-Peter Stellung zu den Fragen der «Elgger/Aadorfer Zeitung»:
Verena Wüthrich, Sie meinten bei der Anfrage für ein Interview, dass Ihr grosses Thema als Kirchgemeinde der Mitgliederschwund sei und die Austritte für einen gesellschaftlichen Megatrend der Individualisierung stünden. Erklären Sie das bitte etwas genauer.
Wüthrich: Das ist etwas anspruchsvoll zu erklären. Ich versuche es: Bernhard Egg machte mich auf einen Text im «Tages-Anzeiger» aufmerksam, in dem eine Studie der Uni Lausanne erwähnt wird. Demnach hat sich der Anteil jener Personen, die einer Partei nahestehen, seit 1971 halbiert. Ich finde das eigentlich auch typisch für die Mitgliedschaft in der Kirche. Man braucht sich nicht mehr zugehörig zu fühlen. Auch die Landeskirche spricht von einem Megatrend. Und es ist so. Ich denke, der Mensch identifiziert sich weniger mit einer Gemeinschaft. Ich sage manchmal etwas zynisch: Wenn die Möglichkeit bestünde, dann würden ganz viele auch aus dem Staat austreten.
Also ein gesellschaftliches Phänomen …
Wüthrich: Ja.
Breidenbach: Der volkskirchliche Auftrag, für die Breite da zu sein, ist nur schwer zu erfüllen. Alle schauen individuell für sich. Wir hören dann beispielsweise als Rückmeldungen: «Das stimmte für mich am Gottesdienst, dieses Lied aber nicht.» – «Dieses Wort des Pfarrers passte, jenes nicht» – «Es passt mir so nicht.» Die Ansprüche an die Verkündigung und den Gottesdienst sind deutlich individueller geworden.
Die Bevölkerung wurde kritischer, hinterfragt mehr?
Breidenbach: Das ist der positive Aspekt. Ich finde das richtig.
Wüthrich: In dem Sinn autonomer. Die Soziologie spricht von elf gesellschaftlichen Milieus, die immer weiter auseinanderdriften. Und jedes hat einen eigenen Anspruch, wie Kirche sein muss, einen eigenen an die Verkündigung der Kirche. Eine Pfarrperson erreicht zwei, maximal drei Milieus. Dies hängt davon ab, in welchem davon sie selbst zu Hause ist. Mit dem muss man arbeiten.
Zeit, sich wieder einmal aktiv zu positionieren
Was im Kleinen geschieht, passiert auch im Grösseren. Die Gesellschaft driftet als Ganzes auseinander, vor allem in den letzten paar Jahren. Stimmen Sie dem zu?
Breidenbach: Ich würde das nicht so sagen, weil das eine Erzählung stützt, die ich für gefährlich halte. Man kann es zwar so sehen, muss aber nicht. Es gibt ganz viele Beispiele dafür, dass es nicht so ist. Immer wieder werden Verständigungsversuche unternommen. Diese Beschreibung würde ich nur auf die institutionelle Bindung beschränken. Parteien, Vereine und Kirchen haben Mühe, was aber nicht heisst, dass beispielsweise die nachbarschaftliche Hilfe, wie hier in Elgg, nicht extrem gut funktioniert.
Kommen wir auf eure Aktion zu sprechen. Laut einer veröffentlichten Kirchenstatistik des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts treten rund elf Prozent aus der evangelisch-reformierten Kirche aus, um Steuern zu sparen. Diesem Trend versucht nun die Kirchgemeinde Eulachtal mit einer Dankeskampagne entgegenzuwirken. Wie kam das zustande und was ist das Ziel der Aktion?
Wüthrich: Es kamen zwei Sachen zusammen. Einerseits müssen wir Austritte an den Kirchenpflegsitzungen abnehmen. Wir sind laufend konfrontiert mit Leuten, die uns ihr Austrittsschreiben senden und mitteilen, dass kein Kontakt gewünscht wird. Wir wissen deshalb nicht, was der Hintergrund ist. Bei vielen haben wir das Gefühl, dass sie denken, ja eh nicht in den Gottesdienst zu gehen und deshalb die Kirche nicht zu brauchen. Sie vergessen dabei aber, dass die Kirchgemeinde ein breites und soziales Aufgabenfeld abdeckt.
Dazu kam noch die Geschichte mit der Bemessung der Pfarrstellenprozente an den Mitgliederzahlen. Und weil wir wie andere Gemeinden Mitglieder verlieren, hätten wir Pfarrstellenprozente abgeben müssen. Dies war ein zusätzlicher Stupf für die Entscheidung, uns wieder einmal aktiv zu positionieren.
Breidenbach: In anderen Kirchgemeinden gibt es ähnliche Aktionen. Wir wollen damit die vorhandene positive Energie nutzen und nicht jenen schreiben, die das gar nicht wünschen, sondern diesen, die da sind. Also den Fokus aufs Positive für die rund 4000 Mitglieder legen, ihnen danke sagen und in Erinnerung rufen, für was sie eigentlich Steuern bezahlen.
Seelsorge ist ein wahrnehmbares Bedürfnis
Verena Wüthrich, Sie sprachen den sozialen Aspekt an. In den Erklärungen der Kirchgemeinde stehen zwei für mich zentrale Punkte, mit welchen die Kirchen punkten können: die Seelsorge und Hilfe für Menschen in Not. Machten sich diesbezüglich die letzten schwierigen Jahre besonders bemerkbar?
Wüthrich: Ich finde Seelsorge ist ein Bedürfnis, das ich wahrnehme. Ich finde es gut, sie auf verschiedenen Ebenen anbieten zu können. Einerseits der theologische Zugang, andererseits derjenige der Sozialdiakoninnen. Und manchmal betreiben auch Sigristen Seelsorge, ohne dass man es merkt. Einfach, indem man mit ihnen reden kann. Ich glaube, wir können hierbei ein wirkliches Bedürfnis abdecken. Wir waren während der Coronazeit ein Topf für unterschiedlichste Anliegen. Ich darf sagen, wir haben sicher das Zuhören erfüllen können.
Breidenbach: Das war eine Situation, in der wohl viele die Seelsorge in Anspruch nahmen. Aus verschiedensten Gründen, wie beispielsweise Angst, Einsamkeit oder auch Überforderung. Soziale Not und das Seelsorgebedürfnis sind aber nach wie vor vorhanden, einfach weil das Leben das Leben ist.
Wüthrich: Was wir während Corona sicher hatten, waren vermehrte finanzielle Gesuche.
Dann sind das besondere Stärken der Kirche, was sie eigentlich unverzichtbar macht?
Wüthrich: Ich sehe das so, ja.
Breidenbach: Ich betrachte es noch etwas anders. Diese Stärken leuchten vielleicht unmittelbar ein. Ich finde aber, ihre wahre Aufgabe in dieser Gesellschaft ist es, die Frage nach Gott offenzuhalten: Gibt es eine göttliche Dimension, die über unser Leben hinausgeht? Was ist der Sinn des Ganzen? Was heisst eigentlich «glauben»? Wir sind eine Institution, welche das Erbe des Christentums an die jungen Generationen weitergibt. Dies bedeutet nicht, dass diese hörig werden, alles glauben müssen, sondern durchaus auch hinterfragen und ihren eigenen Weg finden.
Glauben ist ein Diskurs
Ich nehme diesen Ball gerne auf. Laut eingangs erwähnter Erhebung treten 36 Prozent aufgrund fehlenden Glaubens aus der evangelisch-reformierten Kirche aus – also weitaus mehr als aus finanziellem Aspekt. Wie könnt Ihr dem entgegentreten?
Breidenbach: Das Wichtigste ist, irgendwie zu signalisieren, dass Bibel und Glauben keine Alternativmodelle für Naturwissenschaften sind. Ich bin entsetzt, dass mir Leute immer wieder sagen, sie würden nicht glauben, dass Gott die Welt innert sieben Tagen erschaffen hat. Um Himmels willen, ich auch nicht! Man kann ein modern aufgeklärter Mensch sein und trotzdem glauben.
Wüthrich: Eine Stärke der Landeskirche ist die individuelle Ausprägung der Glaubensvorstellung. Und genau das ist auch unsere Schwäche. Wenn wir einen Gottesdienst feiern, wird eine bestimmte Vorstellung von Spiritualität abgeholt. Und es gibt Menschen, die das eben anders sehen. Ich denke, bei uns ist Glauben ein Diskurs, der für die einen anstrengend sein kann. Denn das erfordert, dass man seine eigene Vorstellung finden muss – und das fühlt sich für andere wiederum zu unverbindlich an. Meine Hoffnung ist, die Leute motivieren zu können, ihre Mitgliedschaft aufrechtzuerhalten, auch wenn sie nicht an Gott glauben.
Auch den kulturellen Aspekt dürfen wir nicht vernachlässigen. Wir sind gesegnet mit alten, historischen Gebäuden, die gepflegt und bewahrt werden müssen.
Der Spagat zwischen Tradition und heutiger Zeit
Stichwort Tradition: Die Kirche sieht sich auch als deren Hüterin. Ist das nicht ein etwas verstaubtes Image, das einer zeitgemässen Auffrischung bedürfte?
Wüthrich: Wenn man die Kirche mit dem Sonntagsgottesdienst assoziiert, dann ist das für die einen tatsächlich sehr traditionell. Seit der Reformation findet das in einem ähnlichen Stil statt. Schauen Sie aber, was es ausserhalb des Gottesdienstes noch gibt. Zudem verhalf uns Corona elektronisch zu einem Sprung. Wir schalteten Hörpredigten auf und streamten Gottesdienste. Infolgedessen kauften Mitglieder extra ein Tablet, damit sie auf unsere Website gelangen. Aus medialer Sicht sind wir wohl nicht schlecht aufgestellt.
Breidenbach: Wir richteten zwischenzeitlich sogar Twint für die bargeldlose Bezahlung der Kollekte ein.
Man darf auch sagen, dass die Kirchgemeinde mit den vielen Anlässen für Jung und Alt durchaus zeitgemäss aufgestellt ist. Für euch wohl auch ein wichtiger Aspekt?
Wüthrich: Ein wenig überspitzt sage ich immer: Die Kirche ist mehr als ihre Sonntagsgottesdienste. Wenn das Zeitgeschehen an diesen gemessen wird, sieht man nur einen kleinen Teil der Arbeit.
Breidenbach: Der Gottesdienst hat überbrachte Formen wie die Predigt. Deshalb versuchen wir andere Formate wie Andachten aufzubauen, wo man diese Asymmetrie nicht hat. Der eine erzählt, die anderen hören zu: Das ist, glaube ich, nicht mehr sehr zeitgemäss.
Wüthrich: Wobei wir eine grosse, treue Besuchergruppe haben, die das auf keinen Fall verlieren möchte. Wir sind herausgefordert, für jedes Milieu das entsprechende Bedürfnis abzudecken.
Eine enorme Herausforderung …
Wüthrich: Das können wir nicht leisten. Wir wissen das. Wir wissen auch, welche Milieus im Eulachtal gut vertreten sind: die Bürgerlichen, Etablierten und Arrivierten. Für sie versuchen wir die nötige Energie aufzuwenden.
Breidenbach: Als absoluter Fan des Gottesdienstes würde ich sagen: Er lebt halt davon, dass man ständig hingeht. Leider ist es so. Es ist wie Basketball spielen oder so …
Wüthrich: Stimmt. Das Spirituelle muss man üben. Es ist wie ein Muskel, der trainiert werden muss.
Breidenbach: Was natürlich auch anstrengend ist.
Weshalb nicht sparen?
Mit der Aktion sagen Sie den Mitgliedern, dass Kirche ohne Solidarität und Entrichten der Kirchensteuern nicht funktioniert. Das leuchtet ein. Aber weshalb nicht einfach sparen, wie das finanziell knapp bemessene Haushalte auch tun müssen?
Breidenbach: Kann man machen, absolut. Das wird auch so sein, denn weniger Mitglieder bedeuten mindere Steuereinnahmen. Wenn man das weiterdenkt, bedeutet es, dass man Stück für Stück Leistungen abbaut. Es stellt sich halt die Frage, welche das sein sollen.
Wüthrich: Das würde wohl zu einer Marginalisierung führen. Wie ein Licht, das man unter den Scheffel stellt und einfach ablöscht. Ich finde die Kirche braucht etwas Grosszügiges, eine gewisse Ausstrahlung, um zu zeigen, dass man etwas zu bieten hat und jeder dazu willkommen ist.
Kommen wir zum Schluss: Was wünschen Sie der Institution Kirche, was den Kirchenmenschen für die Zukunft?
Wüthrich: Ich wünsche mir von einzelnen Mitgliedern eine gewisse Wertschätzung für die Kirchgemeinde und ein Gefühl der Solidarität, dass es sich lohnt dabei zu sein. Auch wenn es einfach nur ums Steuern zahlen geht. Ich wünsche weiter, dass bei den Budgetberatungen die Kirchensteuer nicht herausgestrichen wird, gerade wegen Menschen, die sehr bedürftig sind. Das nervt, denn die Sozialberatungen schicken diese zu den Töpfen der Kirche – so quasi: Fragt doch dort.
Breidenbach: Ganz aus dem Bauch heraus wünsche ich der Institution Kirche den guten Geist Gottes in Fülle. Die Freude an allem Schönen und der Weite der Landeskirche. Und auch, dass wir die Weisheit haben, die nötigen Transformationsprozesse mutig zu gestalten. Den Menschen in der Kirche wünsche ich von Herzen, dass sie für sich was Gutes mitnehmen können. Dass sie mit etwas Hoffnungsvollem in Berührung kommen, das sie im persönlichen Leben aufrichtet.
TEXT UND INTERVIEW: RENÉ FISCHER