Mehr «Stöcklis» und die Welt wäre eine bessere

  19.11.2022 Aadorf

Das Kochbuch «Greentopf», das die Initiantin Franziska Stöckli vorstellte, ist keine Neuheit mehr und trotzdem einzigartig. Das Werk mit vegetarischen und veganen Rezepten ist mittlerweile in der dritten Auflage auf dem Markt und hat sämtliche Erwartungen übertroffen; einer der Gründe ist die spezielle Entstehungsgeschichte.

Die Sekundarschulgemeinde Frauenfeld bietet für Jugendliche, die sich nicht mehr in ihrer Klasse zurechtfinden, den Sinn der Schule generell aus den Augen verloren haben oder sich in einer persönlichen Notsituation befinden, eine Auszeit an. Diese speziellen Time-out-Klassen werden als Tagesschule geführt. Während ihres sechsmonatigen Aufenthalts werden die Kinder von Montag bis Freitag zwischen 7 und 17 Uhr engmaschig durch die Lehrpersonen betreut. Dazu gehören täglich drei Mahlzeiten, die gemeinsam zubereitet werden, ebenso wie wöchentliche Elterncoachings. Gemäss Franziska Stöckli liegt die Ursache der Probleme der Kids in weit über 80 Prozent der Fälle im Elternhaus: «Während unserer Gespräche mit den Eltern habe ich in tiefste Abgründe geblickt. Teilweise unglaublich, wie Kinder aufwachsen müssen. Einige assen bei uns, so viel sie konnten, im Wissen, dass es zu Hause nichts geben würde, weil das Geld im Haushalt in Alkohol oder Drogen floss.» Sie erzählte von Vernachlässigung, Armut aber auch von Eltern, die ihren Nachwuchs materiell mit allem versorgten – ausser mit gemeinsamer Zeit und Fürsorge.
In diesem enormen Spannungsfeld ist es die Aufgabe des Lehrkörpers, die Schülerinnen und Schüler wieder auf die Spur zu bringen, damit sie nach der Auszeit in die Regelklassen reintegriert werden können. Eine gute Möglichkeit, dass Kinder und Eltern wieder in Beziehung treten können, ist gemeinsam etwas kochen und essen. Eine gesunde, abwechslungsreiche Ernährung ist zudem die Basis für einen erfolgreichen Schultag und damit für positive Energie und Selbstbewusstsein. Vor diesem Hintergrund und der Aufgabe, mit den Schülern täglich drei Mahlzeiten zuzubereiten, entstand schliesslich die Idee, ein gemeinsames Kochbuch zu entwickeln; vollgepackt mit Rezepten, die demokratisch ausgewählt wurden. Elf der Jugendlichen sind im Buch porträtiert, mitgearbeitet daran haben effektiv um die 60. Heute, einige Jahre später, haben die meisten von ihnen eine abgeschlossene Lehre in der Tasche und führen ein selbstständiges und -bestimmtes Leben.
Der «Greentopf» soll dazu animieren, gemeinsam mit der Familie zu kochen, um verlorengegangene Kompetenzen wieder zu erlangen. EinE aktuelle Studie zeigt, dass eine vierköpfige Familie pro Tag gerade noch 28 Minuten zum Kochen investiert. «Diese Tatsache weist auf eine gesellschaftliche Veränderung in Richtung Convenience-Food hin. Rasch ein Sandwich oder einen Salat holen, mehr nicht», erzählte die Initiantin weiter. Ab 2025 würden sämtliche Zürcher Schulen in Tagesschulen umfunktioniert. «Wo sollen sich Kinder dann noch ernährungs- oder kochtechnisches Wissen aneignen?» Eines der Ziele, das Stöckli während ihrer Zeit im Timeout hartnäckig verfolgte, war, dass jedes Kind beim Austritt mindestens zehn Gerichte kochen konnte.

Die Akademie Hiltl als idealer Partner

Mit Mitarbeitenden aus 80 Nationen erwies sich Rolf Hiltl mit seiner Akademie als idealer Partner für die Umsetzung des Projekts «Greentopf». Die Wahl fiel nicht gezwungenermassen aufgrund der vegetarischen und veganen Küche auf Hiltl, sondern vielmehr wegen der grossen Vielfalt der beschäftigten Menschen. Die Schülerinnen stammten ebenfalls aus verschiedensten Ländern und widerspiegelten mit ihren Geschichten dieses bunte Miteinander, das im Buch zum Ausdruck kommen sollte. Das erste Zusammentreffen im ältesten vegetarischen Restaurant der Welt fand vor ungefähr zwölf Jahren statt. Die erste Ausgabe mit 15’000 Exemplaren erschien vor drei Jahren – sie war innert Kürze ausverkauft. Die Akademie unterstützte das Projekt in der Umsetzung der Rezepte, die vor Ort gekocht wurden, sowie sämtlichen Fotoshootings der fertigen Gerichte und der porträtierten Schüler. Als weiterer wichtiger Partner wurde der Schulverlag ins Boot geholt, der Herausgeber des allseits bestens bekannten «TipTopf», der sich über das neue Werk ebenso begeistert zeigte. Das vegetarische und vegane Schülerkochbuch mit seinen über 200 Rezepten scheint den Nerv der Zeit getroffen zu haben. In den Jahren von der Idee bis zur Erscheinung der Erstauflage sei extrem viel passiert in dieser Hinsicht: «Das Angebot im Detailhandel hat sich enorm gewandelt, wir mussten zum Teil richtig suchen, um die Produkte für unsere Rezepte zu beschaffen. Heute kann man sie überall kaufen. Von Fleischalternativen auf Soja- oder Quornbasis bis hin zum Schlagrahm», schwärmt Franziska Stöckli, die sich selbst als Flexitarierin bezeichnet, die den Themen Fleischkonsum oder Veganismus sehr entspannt gegenübersteht. Ein «Missionieren» für die eine oder andere Seite liegt ihr völlig fern. Wichtig ist ihr eine ausgewogene, abwechslungsreiche und gesunde ernährung mit möglichst saisonalen und regionalen Produkten.
So seien auch die Rezepte im Buch aufgebaut, damit sie einfach mit dem, was im Kühl- oder Vorratsschrank vorhanden sei, umgesetzt werden könnten. Ob mit Raps- oder Olivenöl, Rahm oder einem veganen Produkt gekocht werde, tue dem Resultat keinen Abbruch. Wichtig sei die Vermeidung von Food-Waste, eines der grossen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Sie sieht die vegetarische Ernährung zudem als eine Lösung, die wachsende Bevölkerung künftig ernähren zu können. Der Fokus der Zukunft liege ganz klar auf Hülsenfrüchten.

Soja und Tofu aus der Region

Wer dachte, dass vegetarisch und regional nicht zusammenpassen würden, sah sich getäuscht, als Franziska Stöckli verschiedene Start-up-Firmen und ihre Produkte aus der Region vorstellte. So produziert ein Unternehmen in Amriswil Tofu, der Juchhof in der Stadt Zürich baut Soja an, auf dem Biohof Böhler in Seuzach werden seit Jahren Edamame-Bohnen geerntet und aus Kemptthal stammen die beliebten Produkte von Planted, die im Detailhandel sehr präsent sind. Im Buch werden als Einstieg eine Vielzahl an vegetarischen Produkten vorgestellt, die als Basis für die nachfolgenden Rezepte dienen und dem Anfänger wichtige Informationen liefern.
Um die Jugendlichen für vegetarische und gesunde Ernährung mit Gemüse zu begeistern, war manchmal die List der richtigen Wortwahl entscheidend. «Crispy klingt viel besser als goldgebackener Tofu im Cornflakes-Mantel», verriet die Referentin, was an diesem Abend die Gäste einmal mehr zum Schmunzeln brachte. Eindrücklich ebenfalls die Präsentation der elf im Buch vorgestellten Schüler als Repräsentanten all jener, die daran mitwirkten und sämtlicher, die vor und nach ihnen ins Timeout «verbannt» wurden. Jede und jeder von ihnen ein Problemfall, ausgeschlossen aus dem Regelunterricht für sechs Monate. ein halbes Jahr Zeit und die Chance, wieder in die Spur zurückzufinden. Die elf Porträtierten stellen sich im Buch mit Bild, Rezept und ihrer Geschichte vor. Sie haben mittlerweile ihren Platz gefunden, allesamt für sich eine Erfolgsgeschichte. Stöckli pflegt nach wie vor einen guten Kontakt mit ihnen, obwohl sich ihre Wege mittlerweile seit Jahren getrennt haben. Sie sagt, dass der Erfolg des Kochbuchs denn auch der Initiative und dem Engagement der Jugendlichen zu verdanken sei, die damit wirklich etwas Grossartiges vollbracht und vielen von ihnen zum ersten Mal im Leben Komplimente und Zuspruch eingebracht hätten. Aussenstehende geben ihr da sicher recht. Aber ebenso Fakt ist, dass nur dank des unerschütterlichen Glaubens der Lehrerin in jedes einzelne Kind dieses Werk entstanden ist, das mit seiner Strahlkraft weit mehr als ein gewöhnliches Kochbuch in der dritten Auflage ist.

MARIANNE BURGENER


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote