Mäeutik in der Spitex – Pionierarbeit, die sich lohnt
14.10.2025 Elgg, RegionAls erste Spitex der Schweiz hat die Spitex Eulachtal 2024 das mäeutische Pflegemodell eingeführt – ein wegweisender Schritt, der den Menschen konsequent in den Mittelpunkt stellt. Statt nur zu versorgen, fragen die Pflegenden: Was braucht dieser Mensch in diesem Moment – ...
Als erste Spitex der Schweiz hat die Spitex Eulachtal 2024 das mäeutische Pflegemodell eingeführt – ein wegweisender Schritt, der den Menschen konsequent in den Mittelpunkt stellt. Statt nur zu versorgen, fragen die Pflegenden: Was braucht dieser Mensch in diesem Moment – körperlich, seelisch, sozial? Die Mäeutik hilft, Antworten darauf zu finden – achtsam, empathisch und alltagsnah.
Doch was genau heisst eigentlich «mäeutisch»? Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet ursprünglich «Hebammenkunst». Gemeint ist damit ein Prozess, bei dem durch gezieltes Fragen und Einfühlen Erkenntnisse ans Licht gebracht werden. In der Pflege bedeutet das: Pflegende begegnen dem Menschen im Hier und Jetzt, achten auf seine Signale, nehmen Bedürfnisse wahr – und gehen behutsam darauf ein. Die Beziehung steht dabei im Mittelpunkt – nicht nur zur Klientin und zum Klienten, sondern auch zu den Angehörigen und sich selbst.
Pflege Eulachtal war 2022 schweizweit die erste stationäre Institution, die Mäeutik als Pflegemodell eingeführt hat – mit dem Ziel, die Lebensgestaltung der Bewohnenden im Hier und Jetzt zu stärken und den Fokus bewusst auf gute Momente zu richten. 2024 wurde das Modell nun erfolgreich auf die ambulante Pflege der Spitex Eulachtal ausgeweitet – ein weiterer Meilenstein.
Im Interview erzählt Regula Münst, Betriebsleitung der Spitex Eulachtal, wie das neue Modell den Pflegealltag verändert, was es für das Team bedeutet – und warum es auch für sie selbst eine persönliche Bereicherung ist.
Regula Münst, das mäeutische Pflegeund Betreuungsmodell legt grossen Wert auf kleine, aber bedeutungsvolle positive Kontaktmomente im Alltag. Können Sie ein Beispiel nennen, wie eine scheinbar kleine Geste eine grosse Wirkung entfalten kann?
Ja, manchmal braucht es wirklich wenig, um jemandem den Tag zu verschönern: Eine unserer Klientinnen legt grossen Wert auf Ordnung – und darauf, dass man ihr Haus nicht mit Strassenschuhen betritt. Normalerweise ziehen unsere Spitex-Mitarbeitenden Schuhüberzieher jedoch nur bei Regen an. Als eine Mitarbeiterin bei ihr im Abenddienst die Schuhüberzieher dann bei gutem Wetter trotzdem mal anzog, strahlte die Klientin: «Sie sind die Einzige, die das macht!» Seither ist dies eine Umgangsempfehlung bei ihr. Ein kleiner Aufwand – mit grosser Wirkung.
Ein anderes schönes Beispiel: Nach der Pflege entdeckte eine Spitex-Mitarbeitende bei einem Klienten ein Bild des Walliser Bergdorfs Blatten. Sie kamen ins Gespräch über den Bergsturz vor einigen Monaten im Dorf, in welchem er früher oft in den Ferien war. Beim Abschied kam der Klient nochmals zum Auto hinaus, worauf sie die Scheibe runterkurbelte. «Sie müssen nicht aussteigen», sagte er sichtlich gerührt, «aber danke, dass Sie mich darauf angesprochen haben!»
Hatten die Spitex-Mitarbeitenden vor der Einführung des mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodells denn kein Augenmerk auf solche positiven Begegnungen gelegt?
Doch, das Augenmerk auf gute Begegnungen war schon da – aber nicht immer im Bewusstsein. Das mäeutische Modell schärft genau diesen Blick: Pflegende lernen, Beziehungsmomente bewusster wahrzunehmen und zu reflektieren. So erkennen sie zum Beispiel Rituale in der Begegnung mit Klientinnen und Klienten, die vorher unbewusst abliefen – und geben ihnen dadurch mehr Tiefe und Bedeutung.
Leben im Mittelpunkt ist eines der Mottos der Pflege Eulachtal. Gilt das auch für die Spitex – etwa bei der Arbeit mit Lebensgeschichten?
Ja, absolut. Auch in der Spitex arbeiten wir, wo es Sinn macht, mit dem Beobachtungsbogen und erkunden die Lebensgeschichte. Dabei geht es nicht ums Bewerten, sondern ums genaue Beobachten und Hinsehen: Hat jemand Schamgefühle bei der Pflege? Welche Musik hört er gerne? Gibt es Dinge, die ihm besonders wichtig sind oder die ihm guttun? Diese Beobachtungsphase hilft uns, Menschen bewusster wahrzunehmen – und bildet die Basis für unsere Klientenbesprechungen im Team.
Haben sich mit der Einführung des mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodells auch die Klientenbesprechungen verändert?
Ja, deutlich. Früher sprachen wir von «Fallbesprechungen» – da ging’s primär um ein Problem. Heute stehen bei den Klientenbesprechungen vor allem Ressourcen und Bedürfnisse im Fokus: Was läuft gut? Was braucht der Klient, die Angehörigen oder die Mitarbeitenden? Es geht um einen ganzheitlichen Blick. Wobei wir stets schauen, wie wir die Klienten, Angehörigen und Mitarbeitenden entlasten können. In herausfordernden Situationen nutzen wir diese Besprechungen zudem, um gemeinsam konkrete Umgangsempfehlungen zu formulieren. So stellen wir sicher, dass alle Mitarbeitenden in bestimmten Situationen gleich vorgehen – im Sinne einer kontinuierlichen, einfühlsamen Pflege.
Verändert die mäeutische Haltung damit auch den Alltag der Mitarbeitenden?
Ja: Sie gehen viel bewusster in die Einsätze, beobachten genauer, und sie nehmen eben nicht nur Probleme wahr, sondern gezielt auch positive Kontaktmomente. Dieses reflektierte Wahrnehmen fliesst direkt in die Besprechungen ein – und damit verbessern wir gemeinsam die Pflegequalität.
Wie waren Sie selbst bei der Implementierung der Mäutik in der Spitex involviert?
Als Mäeutik-Trainerin habe ich im vergangenen Jahr alle Mitarbeitenden der Spitex Elgg im Rahmen eines Pilotprojekts geschult. Aktuell laufen die Schulungen in den beiden Teams Wiesendangen und Elsau. Da das Modell seinen Ursprung in der stationären Pflege hat, musste ich die Kursinhalte stark auf die Besonderheiten der Spitex anpassen – das war eine aufwändige, aber lohnende Herausforderung.
Was ist Ihr Ziel für dieses Jahr?
Wir möchten den Blick aller drei Spitexteams bewusst mäeutisch schärfen – empathisch, achtsam und ressourcenorientiert. Eine konkrete Massnahme dafür ist: Ich begleite in Elgg jede Mitarbeiterin bei einem “Training on the Job“ – vor oder nach einem Mitarbeitendengespräch. Dabei geht es darum, weg von der reinen Problemorientierung hin zum Wahrnehmen von Bedürfnissen zu kommen – vom Unbewussten zum Bewussten. Das hat eine spürbar positive Wirkung – auf Klientinnen, Klienten und die Mitarbeitenden. Zudem müssen in allen Zentren die Klientenbesprechungen gefestigt werden, welche ich bei Bedarf begleite.
Was wäre Ihr Wunsch mit Blick auf das neue Pflegemodell?
Ich wünsche mir, dass Mäeutik als langfristiger Prozess gesehen wird. Mäeutik ist kein Sprint, sondern ein Marathon: Man muss dranbleiben und das Thema aktiv tragen.
Und damit wir uns entwickeln können, braucht es im Betrieb auch Zeit und Raum dafür. Mein Wunsch ist, dass das Modell fest verankert wird: sichtbar auf der Website, erkennbar für Externe – als Haltung, die im Alltag gelebt wird und als unser Alleinstellungsmerkmal. Mäeutik ist kein Papiertiger, sondern eine echte Qualität. Sie unterstützt das Leben im Mittelpunkt und fördert die Zufriedenheit aller Beteiligten.
DANIELA SCHWEGLER, PFLEGE EULACHTAL