«Ma come balli bene, bella bimba …»

  06.10.2022 Elgg

Sie mögen sich wundern, warum ich für meine Geschichte gerade diesen Standort, das Karussell für Pferde gewählt habe. Mit Pferden hat sie gar nichts zu tun, wohl aber mit dem Zirkus.
Auf einer etwas verlängerten Italienreise ging mir das Geld aus. Denn in Ancona, einer Hafenstadt an der Adria, als gerade ein Zirkus gastierte, fragte ich einmal nach, ob sie für mich nicht einen Job hätten. Sie hatten, weil ich mich in ein paar Sprachen knapp im Sattel halten konnte. Als Beweis vermochte ich in einem englischen Telegramm, dass sie mir zeigten, den Lion als italienischen Leone zu übersetzen. Löwendressur war, wie im Zirkus Knie Pferde und einst Elefanten, im «Circo Nazionale Togni» eine der Paradenummern.
In einer roten Livree sollte ich am Eingang Billette für die Tierschau während des Tages und ebenso für die Abendvorstellung kontrollieren, am Nachmittag auch Jugendliche vom Betreten des Geländes abhalten. «Fuori ragazzi, via» (haut ab Kinder), ist mir noch heute ein geläufiger Ausdruck.
«Due circhi» planten, ihre Programme von zwei in eines zusammenzuführen, mit dem sie während der Wintersaison in Sizilien auftreten wollten. Ich sollte dort später als Dolmetscher für ausländische Touristen meinen Auftritt haben. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich habe es in jenem Jahr nicht bis Sizilien geschafft. Die «Circhi» tourten in der Vorbereitungsphase am Apennin herum, wo normalerweise kein Nationalzirkus auftrat. Weil man mit Grösse immer andere Circhi ausstechen kann, hatte der «Circo Nazionale Togni» seine Manege auf drei ausgelegt. Ein wenig Angeberei war dabei, denn Qualität fand nur auf der mittleren der drei Pisten statt. So auch bei einer Clownnummer oder besser Komödiennummer, die ein Engländer, nennen wir ihn einfachheitshalber John, mit seiner Partnerin und einem Klavier bestritt. So müsst ihr euch den Engländer vorstellen: in einem dunklen Sakko mit Fliege und nicht etwa in einem Clownkostüm mit roter Knollen-Aufstecknase und Hut mit Blume, aus der, zum Gaudi der Kinder, Wasser spritzt.
In einer Vorstellung waren einmal 300 Rekruten zu Gast, denen man nach harter Ausbildung wieder einmal etwas gönnen wollte. Die Leute zum Lachen zu bringen ist ein schwieriges Geschäft. Man würde es vorziehen, die Zirkuskuppel stürzte ein, als 300 Soldaten gegen sich zu haben.
So ein Klavierstuhl im Sägemehl ist eine ziemlich wacklige Angelegenheit. Und so erstaunt nicht, dass beim Ablegen der Notenblätter auf dem Notenhalter, zieht man in Betracht, dass John wegen der 300 Rekruten doch ein wenig nervös war, die Finger noch immer an den Blättern waren, als er sich setzte. Die so mitgerissenen Noten flatterten ins Sägemehl. Er stand wieder auf und sammelte sie ein, blies den Staub weg. Einige Späne mussten ihm dabei wohl ins Auge geraten sein. Als er sich halbblind die Augen reibend, setzen wollte, verfehlte er den Stuhl und landete im Sägemehl. So musste er erneut seine Blätter einsammeln, nachdem er sich notdürftig das Sägemehl von Hose und Sakko gewischt hatte. Kein Zweifel, die Slapstick-Nummer als schusseliger, englischer Gentleman gefiel den Rekruten.
Auch die Fortsetzung mit «Nabucco» war gut gewählt, um die Leute bei Laune zu halten. Den Gefangenenchor schmetterte der Künstler so ins Publikum als sässen, wie im dritten Sissi-Film, die österreichischen Besatzer mit der Kaiserin Sissi und Kaiser Franz Joseph höchstpersönlich in der Loge der Mailänder Scala. «Va, pensiero sull’ali dorate» (flieg Gedanke, auf goldenen Flügeln). Lass dich nieder in jenen Gefilden, wo in Freiheit wir glücklich einst lebten … Der Gefangenenchor, ein italienischer Opernrausch, lässt niemand kalt.
Die Vorstellung zeigte gleich, dass John weder Klavier- noch Gesangsstunden geschwänzt hatte. Vielleicht hatte er sich sogar bei der Berufswahl vertan und bei der Entscheidung zwischen Clownerie und Musik den Wegweiser falsch gestellt. Seine Stimme tönte eindeutig besser als mein schlecht geölter Zirkuswagen, wenn er auf einen Güterwagen der «Ferrovie dello Stato» verladen wurde. Ich kann jetzt den Gefangenenchor nicht einfach wiedergeben, denn erstens steht vor mir ja kein Klavier und von Caruso hat meine Stimme nichts geerbt. John sang und spielte sich in einen Rausch bis, ja, mit einem Mal die hohen Töne nicht mehr kamen, so sehr er auch auf die Tasten hämmerte, mit einer sich urenglisch anhörenden Schimpftirade. «King Charles the third», dem die Tinte kürzlich auslief, und der ein falsches Datum in ein Dokument gesetzt hatte, hätte die Schimpftirade nicht besser hingekriegt. So stand der Spieler auf, öffnete den Klavierdeckel und beugte sich über die weite Öffnung. Hatte ihn etwas erschreckt? Schritt für Schritt begann er langsam zurückzuweichen.
Erst war nur eine Silhouette von blondem Haar zu sehen. Dann ein Rausch von blonder Üppigkeit in einer Schleppe von Pracht. Eine Frau mit einem Gesicht, mit dem jeder Mann gern das Kissen geteilt hätte, mit einem weiten Dekolleté. Jedes Gramm war gut verteilt um den ganzen Körper geschlungen. Sie hätte sogar einem Haremswächter, dem, sollte man meinen, für eine feurige Liebe doch einiges fehlte, das Blut in Wallung gebracht. John wechselte die Seite des Pianos und – ganz Gentleman – half der Dame beim Heraussteigen, reichte ihr galant die Hand, bog sein Knie als Treppenstufe und schon stand sie neben ihm. Und als sei es die natürlichste Sache der Welt sagte sie einfach: «Hello.» Gut zu verstehen, dass es bei 300 italienischen Rekruten mit einem solchen Auftritt nicht nur bei hungrigen Augen blieb. Die Begegnung lief alles andere als leise ab und der Engländer liess der Partnerin ihren glamourösen Auftritt auskosten.
Indessen trat John auf die andere Seite des Klaviers, drückte zaghaft einige Basstöne, wechselte nach oben und die hohen Töne klangen nun wieder rein, als wäre ihnen nie jemals eine junge Dame im Weg gestanden. Dann intonierte er ein italienisches Volkslied. Die Partnerin übernahm die Melodie. Ich versuchs mal, trotz eben fehlendem Caruso-Erbteil. Aber Mutlosigkeit gehört nun einmal zu den ersten Todsünden und wenn man schon eine vermeiden kann … «Ma come balli bene bella bimba, bella bimba, bella bimba …» (Wie gut du tanzest, schönes Mädchen …) Die Spekulationen rumorten wohl in vielen Köpfen, wo oder wie sich die Frau im engen Klavierraum versteckt haben könnte.
Den Leuten lange Denkpausen zu gönnen, kann sich jedoch kein Zirkus leisten, und so setzte sich der Mann wieder ans Klavier, stand nochmals auf und beugte sich über den offenen Deckel, um nachzuschauen, ob da nicht nochmals etwas rauskomme. Grinste «No, non c’è piú nessuno dentro», (Es ist niemand mehr drin), schloss den Deckel, setzte sich wieder, spielte kraftvoll einige Akkorde und nahm dann passend – oder doch eher unpassend – zum militärischen Besuch die Melodie von «Bella Ciao» auf, ein Partisanen- und Protestlied während der Herrschaft der Faschisten unter Mussolini in Italien. Sogar Greta Thunberg hat es mit erhobener Faust und ihren Sympathisantinnen und Sympathisanten gesungen. Die Schöne, neben dem Klavier stehend, reckte ebenfalls die Faust in die Höhe. Dabei sah sie so gar nicht wie italienische Reispflückerinnen aus, die schon ums Jahr 1900 mit diesem Lied gegen die harten Arbeitsbedingungen unter der Herrschaft der lombardischen Reisbarone missbilligt hatten. Ihr Protestlied war wohl gerade das richtige für den Rekruten und die Hymne der Rebellion wohl auch eine kleine Demonstration gegenüber der Machtwillkür im Militär. Wenn 300 Rekruten aus voller Kehle singen, dann ist das Programm mehr als gerettet. «O bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao …»
Doch was war denn nun wieder los? Der Gesang der Schönen geriet mit einem Male in ganz falsche Töne, wie wenn sie sich verlaufen hätten. Die trotzige Gebärde der Reispflückerin fand abruptes Ende. Ein Zittern durchlief ihren Körper, der wie durch einen Fieberschub durchgeschüttelt wurde. Der Kopf fiel auf ihr weites Dekolleté. Die Brüste fielen ein. Der ganze Körper begann zu schrumpfen wie bei einem Ballon, dem die Luft herausgelassen wurde. Fehlte nur noch der wilde Ritt unter der Zirkuskuppel. John fasste sie um die Taille, damit sie nicht zu Boden ging. Die Beine hingen schlaff am immer mehr schrumpfenden Leib. Während das Zirkusorchester «Requiem» in d-Moll von Mozart intonierte, begann John die Haut glattzustreichen, faltete die Puppe dann zusammen und versorgte sie in eine Tasche, die ihm ein Zirkusangestellter entgegenhielt. Aus «Bella ciao, ciao, ciao» blieb nur noch ein trauriges Tschau Bella. Nicht einmal die kleinste Illusion war übrig geblieben und die Überschwemmung mit Testosteron schneller gestoppt als ein übergelaufener Bach durch die Feuerwehr.
Nirgendwo hätte man besser sehen können, wie Enttäuschung in Wut umschlägt. Statt Applaus gab es Pfiffe. Buh-Rufe füllten das Zelt bis hinauf in die Kuppel und darüber hinaus. Aber warum blieb der Künstler auf dem Stuhl sitzen und klimperte etwas gelangweilt auf dem Klavier herum? Wartete er auf den Applaus, der doch irgendwann folgen müsste? Da, wie von Geisterhand geführt, öffnete sich der Klavierdeckel erst nur einen Spalt, bis er ganz zurückgeschlagen wurde.
Erst war nur eine Silhouette von blondem Haar zu sehen. Dann ein Rausch von blonder Üppigkeit in einer Schleppe von Pracht. Sie drehte ihr Gesicht zum Publikum. Ein Gesicht, mit dem jeder Mann gern das Kissen geteilt hätte. Galant – ganz Gentleman – half John der Dame beim Heraussteigen, bog sein Knie als Treppenstufe und schon stand sie neben ihm. Und als sei es die natürlichste Sache der Welt, sagte sie einfach: «Hello» und reckte die Faust wie eine italienische Reispflückerin, die eben im Begriff war, sich mit «Bella ciao» gegen die italienischen Reisbarone zu stemmen.
Zu den Klängen von «Bella ciao» des Zirkusorchesters verneigte sie sich artig. Keine Pfiffe, keine Buh-Rufe mehr. «Viva, viva», tönte es von den Rängen. Unter dem Applaus der Zirkusrunde verliess das Paar, sich nach allen Seiten verneigend, die Manege.

PETER ZINGGELER


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote