«Looking at Things»: Das Schwimmbad in der Kirche

  30.08.2022 Elgg

Wenn der Spass mit einem Mal nicht mehr die Hauptrolle spielt: Giovanni Battista Pergolesis «Stabat Mater» begleitet eine «Freilichtaufführung» in der Kirche Elgg.

Simon Berger hat mit seiner grossmundigen Vorankündigung nicht übertrieben: «Ein ausserordentliches Projekt, das es so nie gegeben hat.» Zweieinhalb Jahre hat er mit seiner Frau an diesem Stück gearbeitet. Die Vorschusslorbeeren im Artikel vom 9. August in der «Elgger/Aadorfer Zeitung» konnten nun reif geerntet werden, und ihr Genuss begeisterten Gaumen und Herz. (Gab es doch auch noch einen Gratis-Apéro für Gäste der ZLB).

Pergolesi im Schwimmbad

Das Schwimmbad in der Kirche Elgg. Geistliche Musik mit einer ausgelassenen Clique zusammengeführt? Geht das? Das ging sogar ausgezeichnet. Gesangs- und Instrumentalvirtuosen begeisterten das aus allen Altersschichten zusammengesetzte Publikum mit einem Auftritt, der rund 40 ganz unterschiedliche Titel aufwies. Der grösste Anteil stammte jedoch aus Pergolesis «stabat Mater». Dazu begleiteten und bildeten andere Musikstücke das Geschehen auf der Schwimmbadbühne ab.
Die Kinder amüsieren sich. Die Kioskfrau (Rahel Imboden) dampft hin und wieder genüsslich oder löst ein Kreuzworträtsel. Die Kinder werden erwachsen. Sie hält das Geschehen mit ihrer geerdeten Kraft zusammen. Die Sängerin und drei Sänger brillieren mit ihren Stimmen sowie durch ihre szenische Präsenz. Pergolesi hätte sich so wohl gefühlt wie in einer römischen Therme und wäre entzückt gewesen über das Konzept und die Regie von Simon Berger. Gleich wie das Publikum, das mit Anerkennung nicht geizte bei ihrer Standing Ovation. Die herrliche Akustik der Kirche trug das ihre zum wuchtigen musikalischen Fest bei.

Der Tod, der ungefragt ins Leben eingreift

Sommer: Eine Gruppe junger Menschen verbringt auch in diesem Jahr einen vergnüglichen Sommer am Wasser. Noch ist nichts zu spüren von einer schrillen Wendung. Noch ist Stabat Mater weit weg vom Geschehen. «Stabat mater dolorosa – es stand die Mutter voller Schmerzen beim Kreuz.»
Pergolesi war 26 Jahre alt, als er an Tuberkulose starb. Erst wenige Wochen zuvor hatte er seine Auftragsarbeit vollendet, worin sich die ganze Gemütsverfassung zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit des mit dem Tod Ringenden spiegelt. Die Inszenierung von Simon Berger ist jedoch keineswegs ein leidensmystischer Weg zum Heil, den die katholische Kirche gerne zelebrierte.

Der Tod nähert sich zunächst leise

Er schwebt gleichsam heran. Wie die Projektion von Röntgenbildern, die über Decke und Wände der Kirche streifen. Wie damit umgehen? Was fängt man noch mit dem Rest an Lebenszeit an, dem Sommer und Herbst fehlen werden? So jung noch. So viel Wut! Die Freunde haben gut reden. Was taugen Trost und Betroffenheit von jemand, der noch weitere 60 Jahre lieben, arbeiten, reisen, lesen, geniessen, sich weiter entwickeln kann. Wut: Sich die Hand wundschlagen. Der Kioskfrau verbindet sie mit mütterlicher Wärme. Verzweiflung. Ein nicht ernst gemeinter Suizidversuch. Dem Tod zum Trotz: Nochmals eine Party schmeissen. Die ganze verbleibende Vitalität zusammenfassen, sie ausschweifend ausleben, wie sie in Bildern an die Kirchenmauer projiziert wird. Die Kioskfrau ist die mütterliche Begleitung in den Tod. Sei es nun durch den Giftkelch oder ihre palliative Nähe. «Looking at Things»: Dem was kommt ins Auge blicken. Der KranKe gleitet hinüber in den Tod. Es gibt hässlichere Begleiter als Pergolesis Musik.
Das Leben im Bad plätschert dahin. Die Freunde scheinen sich auf der Spielweise eher zu langweilen. Betroffenheit hat eine kurze Halbwertszeit. Sich mit dem Tod auseinanderzusetzten ist ein mühsames Unterfangen. Die Notwendigkeit besteht eher darin, sich wieder aufzurappeln.

Wie ist die Handlung einzuordnen?

Der Zuschauende lebt mit, ohne durch einen Text geführt und mitgenommen zu werden. Ungleich der Musiker, deren Gang durch Noten bestimmt ist. So orientiert er sich an den Wegmarken, die der Regisseur setzt. Darüber hinaus braucht es die eigene Interpretationsfreudigkeit und Kreativität. Erst in diesem Zusammenwirken entfaltet sich das Erlebte im Zuschauenden zum Kunstwerk. Ist das Publikum überfordert? Sollte das wie bei einem kurzzeitigen Filmriss der Fall sein, so trägt die Musik den Verunsicherten darüber hinweg, bis er wieder freudig Fuss gefasst hat.
Nach der zweiten Aufführung vom letzten Samstag folgen noch zwei: Freitag und Samstag, den 2. und 3. September. Das Theater zur Waage Elgg zieht danach für zusätzliche Vorstellungen nach Chur weiter.

PETER ZINGGELER


Mitwirkende

Konzept und Regie: Simon Berger
Komposition und Arrangement: Hannes Barfuss
Musikalische Leitung: Maxime Thély
Kioskfrau: Rahel Imboden
Sopran: Yerin Mira Läuchli
Tenor: Valérian Bitschnau
Countertenor: Elmar Hauser
Bariton: Gergely Kereszturi
Oboe: Debora Klein
Violine: Jonas Krebs
E-Bass: Normann Süsstrunk
Klavier: Florian Wachter


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