Lieber Pflege daheim als im Pflegeheim
11.09.2025 RegionGedanken zum Pflegenotstand
In der «Elgger/Aadorfer Zeitung» vom 6. September 2025 nehmen Gemeinderat Roger Gerber und Amal Savasci Bereichsleiterin Soziales und Gesellschaft zur Altersbetreuung Stellung, insbesondere für Elgg. In ihren Ausführungen werden die ...
Gedanken zum Pflegenotstand
In der «Elgger/Aadorfer Zeitung» vom 6. September 2025 nehmen Gemeinderat Roger Gerber und Amal Savasci Bereichsleiterin Soziales und Gesellschaft zur Altersbetreuung Stellung, insbesondere für Elgg. In ihren Ausführungen werden die Herausforderungen richtig erkannt und konkrete Lösungen aufgezeigt. Nach den Vorgaben des Kantons wurde die zentrale Anlaufstelle für Pflege geschaffen, in Kooperation mit drei umliegenden Gemeinden. Die meist mit der Situation überforderten Personen benötigen Beratung und Triagen sind wichtig. Das ist nötig und gut so.
Als Teil des Gesundheitswesens bewegt sich auch die Langzeitpflege in einem freien und gleichzeitig regulierten Markt. Auf den ersten Blick mag das den Wettbewerb beleben, anderseits schafft es auch Möglichkeiten, sich am Honigtopf zu bedienen. Für Aufgaben, die lukrativ sind, finden sich immer Organisationen. Gewinnorientierte und teils börsenkotierte Unternehmen, die gerne unterstützen. Mit der finanziellen Entschädigung pflegender Angehöriger wird das einmal mehr sichtbar. Die Arbeit und enorme Belastung als pflegende Angehörige, die sich meist Familienmitglieder 7/24 aufbürden, soll korrekt entschädigt werden. Das verhindert zwar nicht, dass Angehörige nicht selten bis zur eigenen Erschöpfung Einsatz leisten, ist aber ein wichtiges Zeichen der Wertschätzung. Dass sich private Unternehmen für die Koordination der pflegenden Privatpersonen beteiligen, zeigt, dass es lukrativ ist. Anstatt die Situation zu klären, reduziert der Kanton Zürich etwas hilflos sein Normdefizit und trifft damit direkt die Pflegenden Angehörigen. Wenn das nur kein Bumerang wird!
Ähnlich ist es bei der Spitex. Die öffentliche Hand hat einen Leistungsauftrag und muss in der Regel innert 24 Stunden einsatzbereit sein, beispielsweise wenn jemand aus dem Spital entlassen wird. Mit der Fallkostenpauschale erfolgen die Entlassungen früher und werden im Fachjargon als «bloody exit» bezeichnet. Der Pflegeaufwand für die Nachbehandlung wird an die Spitex delegiert, was nicht grundsätzlich falsch ist. Die Fahr-/Wegkosten der Spitex sind sogenannte nicht verrechenbare Stunden, was bedeutet, längere und aufwändige Klienten zu Hause sind für die Spitex-Organisationen wirtschaftlicher als in derselben Zeitspanne drei oder vier Klienten mit geringem Aufwand in verschiedenen Haushalten zu versorgen. Somit wird schnell klar, welche Klientel sich private Spitex-Organisationen aussuchen.
Neben diesen betriebswirtschaftlichen Herausforderungen steht unsere soziale Verantwortung im Zentrum. Auch die grosse Mehrheit der Babyboomer (Jahrgänge 1946-1964) wird früher oder später Unterstützungs- oder Pflegebedarf haben. Die Spitex kann einen wichtigen Teil dieses Bedarfs abdecken. Angehörige, wenn sie im selben Haushalt leben oder in naher Umgebung wohnen, decken ergänzend die Betreuung ab. Ist trotz guter Zusammenarbeit aller Beteiligten ein Verbleib der Pflegebedürftigen zu Hause nicht mehr möglich, erfolgt der Eintritt ins Pflegeheim – meistens unvorbereitet und nicht freiwillig. Das klassische Altersheim mit rüstigen Bewohnenden, wie man es noch bis in die späten 1980er kannte, hat ausgedient. Nun gibt es zunehmend mehr Seniorinnen und Senioren, die allein zu Hause sind. Glücklich, wer gute Nachbarn oder Kinder hat, die in der Umgebung wohnen und sich um sie kümmern (wollen). Für die anderen ist das Radiooder Fernsehgerät oder der zeitlich limitierte Besuch der Spitex oft der einzige soziale Kontakt. An einem Workshop für altersfreundliche Gemeinden wurde unlängst eine Studie zum Thema Alterseinsamkeit vorgestellt. Sie zeigt unter anderem auf, dass Einsamkeit im Alter vergleichbare gesundheitliche Auswirkungen haben kann wie der Konsum von täglich 16 Zigaretten oder acht alkoholischen Getränken. Wenn neben der Einsamkeit noch eine demenzielle Entwicklung dazukommt, ist der Eintritt in ein Pflegeheim aktuell leider der einzige Weg. Dort gehören aber viele noch nicht hin!
Angebote an Wohnformen, bei denen der Pflegebedarf gering ist und die Betreuung im Fokus steht, fehlen grösstenteils. Wenn wir dieses Angebot mit überwiegend Betreuungs- und geringem Pflegebedarf nicht zur Verfügung stellen, überlasten wir mit den Babyboomern unser System. Es werden Betten fehlen für Pflegebedürftige, während Menschen mit Betreuungsbedarf in einer für sie ungeeigneten und gleichzeitig unverhältnismässig kostenintensiven Wohnform leben. In der Lösungsfindung ist der von der Gemeinde Elgg bereits eingeschlagene Weg der Kooperation mit umliegenden Gemeinden zielführend.
PATRICK REITER, ELGG