Im Phantastenwinkel z’Nüüfere
07.06.2025 RegionVor Generationen lebte im kleinen Bauerndorf, auf der Hälfte des Weges zwischen Schaffhausen und Frauenfeld, in der Mulde zwischen Barchetsee und Hochberg, ein stolzer, distanzierter Menschenschlag. Zu dem der despektierliche Übername so gar nicht passte, mit dem ihn seine Nachbarn ...
Vor Generationen lebte im kleinen Bauerndorf, auf der Hälfte des Weges zwischen Schaffhausen und Frauenfeld, in der Mulde zwischen Barchetsee und Hochberg, ein stolzer, distanzierter Menschenschlag. Zu dem der despektierliche Übername so gar nicht passte, mit dem ihn seine Nachbarn titulierten.
Die im Alltag verschlossenen Menschen übten sich in sprachlicher Zurückhaltung, was mit einer durch die Jahrhundete bewährte Erfahrung im Zusammenleben erklärbar sein könnte. Nur ein Glas «Nüfermer«, an Festen genossen, erlaubte es ihnen kurzfristig, ihre kontrollierte Introversion abzulegen und sich in die sie selber überwältigende Ausgelassenheit zu befreien. Sie wähnten sich im schönsten Mittelpunkt der Welt, auch wenn sich ihrer Familien in unerklärbar zeitlichen Abständen schwer verständliche Schicksale bemächtigten. In meiner Jugendzeit nannte man wenige Häuser am Rande der damals allesamt noch staubigen Dorfstrassen den «Phantastenwinkel «, aus dem der sonst gepflegte Gang zur Dorfkirche unterblieb und aufgefallen war. Ihm schiebe ich die folgende Geschichte zu.
Der Landvogt empfiehlt die Absetzung des Pfarrers in Oberneunforn
Hans Edlibach, der Zürcher Landvogt in Frauenfeld ersucht am 19. Mai 1533 bei Heinrich Bullinger, dem Vorsteher der Kirche in Zürich um Rat. Die Sache mit den Täufern in Neunforn stehe nicht gut. Sie verführten das Volk. «Ich lass üch wüssen, daß zu Nüfren übel stat der döfren (Täufer) halb, die das arm from fölchly verfuerent, daß ich nüt weyß, wie ich im dun sol.»
Edlibach ist bereits gerichtlich gegen sie vorgegangen, «hab ( sie) lassen richten, och sust fil in gfencknuß unnd um gelt gstrafft. Aber sy gend gar nüt darum.»
Sie wollten des Ortspfarrers Niklaus Steinbock Stimme, ihres bei Johannes 10,3 zitierten Hirten, nicht hören. Sie gehen nicht zur Kirche: «gand nüt zum wort gottes.» Denn er habe sie gelehrt, dass die Kindertaufe nicht rechtens sei und von zweierlei Zehnten gesprochen, die bezahlt und nicht bezahlt werden sollen, «nach lut des nüwen testamentz ... er sy ein falscher profett!» Solche und andere Dinge halten sie ihm vor und machen ihn schlecht. Daher ist der Landvogt der Meinung, es wäre das Beste, diesen gegen einen fähigeren Mann auszutauschen. Der Pfarrer ist alt und hat viele Kinder, die ihn täglich beanspruchen, sodass er die Schrift nicht fleissig studiert, jedoch überhebliche Bauern hat, die den Predigten des Pfarrers nur das Schlechte, entnehmen, sodass dieser nichts mehr Gutes bewirkt.
Edlibach ist besorgt, dass, wenn seine Amtszeit als Zürcher Vogt im Thurgau vorbei ist, Steinbock ohnehin nicht mehr bleiben kann. Er war der Erste, der das wahre Wort Gottes gepredigt, sich auch verheiratet hat und anderes mehr. Der kommende Luzerner Landvogt Christoph von Sonnenberg könnte gegen ihn vorgehen.
Edlibach adressiert den Brief zusammen mit dem Probst von Embrach Heinrich Brennwald, Amtmann des Klosters Töss, welches das Kollaturrecht (das Recht den Pfarrer einzusetzen) in Neunforn besitzt und sendet ihn «Dem wolglertten fromen heren Heinrichen Bully (Kurzform des Namens Bullinger) predicant zu Zürich zum grossen münster, minem drüwen hirten und heren unnd frunde.»
Prozesse und Todesurteile über die Täufer in Neunforn
Die Täufer wähnten keinen abartigen, sondern den rechten christlichen Glauben zu leben und unter der Leitung des Heiligen Geistes das Urchristentum wieder herstellen zu können. Die Obrigkeit wiederum verlangte – trotz des eingetretenen Unglücks bei Kappel im Jahre 1531 – von den Untertanen, dass nichts zum Nachteil der erkämpften evangelischen Wahrheit geschehen dürfe. Wer die Sakramente des Nachtmahls und der Kindertaufe verachtet, sollte an Leib und Gut bestraft werden.
In Neunforn waren einige Gemeindegenossen aufgefallen und in Konflikt mit dem Mandat der Zürcher Obrigkeit geraten. Es waren Täufer, die sich teils in ihren Häusern, teils an verborgenen Orten in Konventikeln versammelt hatten und sich nicht unter die Ordnung der Kirche und des Staates stellen wollten. Sie wurden bestraft, in Neunforn fünf von ihnen mit dem Tod. Es sollen harmlose und ungefährliche Leute gewesen sein, die lieber den Tod erlitten als dem «Geiste» ungehorsam zu werden.
Die Täuferin Margaretha von Neunforn, Dienstmagd
Das Staatsarchiv Schaffhausen bewahrt eine Prozessakte mit knappsten Angaben: «Die jungfrow, genannt Margreth, von Nüfferen, dient by Uly Kaule. Sie hat ihr Bekenntnis zum Täufertum widerrufen und wird ausgewiesen: fritags misericordia domini anno 1533 ... die toufferin von Nufferen ist von irm widertouff gestanden und hat wöll dem nit mer anhangen. Und dabi ist ir verbotten miner herren gericht, das sy nit wider darin sol komen dann mit miner herrenn (Zustimmung).»
Prozessberichte in Zürich erwähnen Margaretha ebenfalls als Mitglied eines Täuferkonventikels in Welsikon bei Dinhard. «16. März 1532 (Samstag v. Judica). Vor den Rathsverordneten. Els Hagenbuch von Welsikon, eine Gönnerin der Täufer, nennt als Theilnehmer an den Versammlungen in ihrem Hause Klaus Müller und Adelheit Fyrabend von Altikon, Jakob von Feigem, Konrad Binz Müller von Nerach, Margaretha von Neunforn, Dienstmagd.; ferner Jakob, Heini und Junghans Rümbeli von Welsikon und viele Kinder! Ihre Nachbarn Gebhart Belli und zwei Töchter des Wildhafen haben sich von ihr überreden lassen, Täufer zu beherbergen. – Die Frau bekehrt sich. «Landvogt Hans Edlibach (1487–1559) in Frauenfeld sass viele Jahre im Kleinen Rat von Zürich, war Vogt in Stammheim, Landvogt in Andelfingen und im Thurgau, Obervogt in Wollishofen und Amtmann von Winterthur. In seiner Darstellung der Kappelerkriege von 1529–31 verurteilte er den politischen Einfluss der Geistlichkeit, besonders denjenigen Zwinglis. Er wird beim Kauf des Schlosses Frauenfeld von den verarmten Landenbergern durch die Eidgenossen erwähnt.
Pfarrer Niklaus Steinbock (+1537), ehemals katholische Pfarrer in Neunforn, war wegen seiner evangelischen Predigten und der Messeverweigerung durch den Obwaldner Landvogt Heinrich Wirz in Frauenfeld vertrieben worden. Auch das Dominikanerinnenkloster Töss wollte in seiner Pfarrei einen «Priester nach altem Brauch» installieren. Der neue Seelsorger Heinrich Wirth musste aber schon bald im Amt sistiert werden, da er in der Gemeinde einen Totschlag begangen hatte.
Zürich bevorzugte erneut den konvertierten Pfarrer Steinbock. Der katholische Landvogt Wirz jedoch liess ihn überwachen, drohte gar, ihn henken zu lassen und versuchte die Gemeinde gegen den Pfarrer aufzustiften. Dagegen verwahrte sich Zürich und erklärte, «man habe dem Pfarrer befohlen, das heilige Evangelium und das Gotteswort den Kirchgenossen nach dem wahren und lautern Verstand zu predigen.» Der Zürcher Ratsherr Hans Escher soll dies dem Landvogt klar machen und darauf dringen, dass dem Pfarrer kein Leid geschieht. Sein Besuch in Frauenfeld war erfolgreich. Steinbock gehört auch zu der vom Frauenfelder alt Schultheiss Hans Mörikofer geleiteten Redaktion zur Abfassung einer« Kirchen-und Sittenordnung« nach Zürcher Muster, welche 1530 die zweite, von Zwingli geleitete Synode beschlossen hatte.
Steinbock besitzt ein Gut im «Krachenfels» in Oberneunforn, mit Haus und Hof und Trotte, viereinhalb Jucharten Reben, einen Acker, 12 Jucharten Holz und Boden, anderthalb Mannmahd Heuwachs. Er wird es an Niklaus Oberacker, Glockengiesser und Burger von Konstanz für 200 Gulden verkaufen, was Hans Löwenberg zu Altikon, Vogt zu Ober-und Niederneunforn bestätigt.
Trotz allen Turbulenzen in der Gemeinde und zahlreichen Anfeindungen versieht Steinbock unter dem Schutz Zürichs die Pfarrstelle weiterhin bis zu seinem Tod.
Als der angesehene Prädikant verstarb, gedachte man seiner an der Tagsatzung, wobei sich über seinem Nachlass noch eine Steuerkontroverse entzündete. Zürich wehrte sich zugunsten dessen Nachkommen gegen den Landvogt in Frauenfeld, der vom Prädikanten den Leibfall (einen fixierten Anteil am Nachlass) beziehen wollte. Zürich argumentierte: «Da doch die Messpriester auch keinen Leibfall gäben und damit die Spiesse gleich lang blieben, solle man davon Umgang nehmen.» Der Bitte wurde entsprochen; für die Zukunft jedoch beschlossen, dass in den gemeinen Obrigkeiten, die mit dem Tod abgehenden Prädikanten den Leibfall schuldig sein sollten.
MARKUS SCHÄR