Im Einsatz für Menschen mit Behinderung
18.03.2023 EttenhausenBarbara Müller ist beeinträchtigt durch das Asperger-Syndrom und sehbehindert. In einer knappen Woche darf die Kantonsrätin an der ersten Behindertensession der Schweiz teilnehmen. Debattiert wird im Nationalratssaal eine Resolution zum Thema politische Teilhabe und Rechte ...
Barbara Müller ist beeinträchtigt durch das Asperger-Syndrom und sehbehindert. In einer knappen Woche darf die Kantonsrätin an der ersten Behindertensession der Schweiz teilnehmen. Debattiert wird im Nationalratssaal eine Resolution zum Thema politische Teilhabe und Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Am Freitag, 24. März, lädt Nationalratspräsident Martin Candinas zur ersten Behindertensession der Schweiz. Die Teilnehmenden debattieren im Nationalratssaal eine Resolution zum Thema politische Teilhabe und Rechte von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz. Rund 22 Prozent der Schweizer Bevölkerung leben mit einer Behinderung. Dies entspricht 1,8 Millionen Personen. Obwohl ihr Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben in der UNO-Behindertenkonvention verankert ist, sieht es in der Realität anders aus. Der Zugang zu politischen Ämtern ist nach wie vor erschwert. Dieser unterrepräsentierte Anteil der Bevölkerung erhält nun endlich eine Stimme und eine politische Bühne.
Die Anliegen von blinden und sehbehinderten Personen werden unter anderem vertreten durch die Ettenhauserin Barbara Müller. Sie, selbst sehbehindert, ist wissenschaftlich tätig (Dr. sc. nat. ETH, Geologin) und seit 2012 Kantonsrätin im Thurgau. Sie sieht sich als engagierte Fürsprecherin der Grund- und Menschenrechte, ganz im Speziellen der Behindertenrechtskonvention. Müller war im März letzten Jahres bei den Anhörungen des UNO-Ausschusses bezüglich der Schweiz und der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention hierzulande als Vertreterin von Leuten mit Asperger-Syndrom mit dabei. Im Interview spricht sie darüber, wie wichtig es ist, dass Menschen mit Behinderungen mehr Gehör finden:
BARBARA MÜLLER, AN DER BEHINDERTENSESSION DEBATTIEREN DIE TEILNEHMENDEN ÜBER EINE RESOLUTION ZUM THEMA POLITISCHE TEILHABE UND RECHTE VON MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN. WESHALB IST DAS DRINGEND NÖTIG UND WAS VERSPRECHEN SIE SICH DAVON?
Dringend nötig ist es, weil sie in Parlamenten, ob national oder kantonal, völlig untervertreten sind. Der einzige mir aktuell namentlich bekannte ist auch ein Thurgauer, nämlich Nationalrat Christian Lohr.
WIESO DENKEN SIE IST DAS SO?
Vermutlich ist das historisch gewachsen. Sie wurden über lange Zeit völlig marginalisiert. Man sieht sie halt nicht als Menschen mit Fähigkeiten und Begabungen, sondern als defizitäre Wesen, wie ich zu genüge selbst erfuhr. Man traut es ihnen nicht zu, oder auch sie sich selbst nicht.
DA KÖNNTE EINE ÖFFENTLICHE DEBATTE HELFEN, DAMIT SICH SOLCHE LEUTE EHER GETRAUEN?
Auf jeden Fall, das hat eine Signalwirkung.
Eingeschränkte politische Teilhabe
RUND 1,8 MILLIONEN PERSONEN IN DER SCHWEIZ LEBEN MIT EINER BEHINDERUNG. VIEL MEHR ALS DIE ÖFFENTLICHKEIT VERMUTLICH WAHRNIMMT WESHALB IST ES SO WICHTIG, DIESEN EINE STIMME ZU GEBEN?
Ich wusste selbst nicht, dass es so viele sind. Ein wichtiges Problem dabei: es gibt viele Menschen mit unsichtbaren Behinderungen. Beispielsweise sieht man sie einem Gehörlosen kaum an. Wenn ich als Sehbehinderte irgendwo stehe, merkt man es mir auch nicht an. Oder solchen mit chronischen oder rheumatischen Erkrankungen.
SIE TEILTEN MIR MIT, IHRE POLITISCHE VISION SEI EIN STAAT, IN DEM JEDER BÜRGER, JEDE BÜRGERIN UNABHÄNGIG DER EINKOMMENS- UND VERMÖGENSSITUATION BEZIEHUNGSWEISE SOZIALEN STELLUNG RESPEKTIERT WERDE. DAS BEDINGT IHRER MEINUNG NACH EINE UNEINGESCHRÄNKTE POLITISCHE TEILHABE. INWIEFERN IST SIE HEUTE BEGRENZT?
Weil man diesen Menschen nichts zutraut oder, wie ich in Parteien selbst erfuhr, sie eher sogar dran hindert, sich politisch zu engagieren. Zum Beispiel erhalten sie keine vorderen Listenplätze bei Wahlen. Und die wirtschaftliche Situation ist leider für viele von uns schwierig. Adaptierte Arbeitsplätze gibt es kaum oder dann nur im zweiten Arbeitsmarkt, wo die Löhne sehr bescheiden ausfallen. Diese sind absolut inakzeptabel. Abgesehen davon: Um im zweiten Arbeitsmarkt Fuss fassen zu können, braucht es bereits eine IV-Rente. Das alles könnte verbessert werden, indem man es beispielsweise durch eine Sensibilisierungskampagne öffentlich macht. Dann müssen aber zwingend Betroffene hinstehen. Es geht meiner Meinung einfach nicht an, dass man eine Stellvertreterpolitik betreibt mit sogenannten nicht betroffenen Experten, die angeblich Bescheid wissen. Ich als Betroffene weiss es immer besser.
SIE SPRECHEN AUCH VON EINEM ZERRBILD, EINER WAHRNEHMUNG DER MENSCHEN MIT BEHINDERUNG ALS DEFIZITÄRES WESEN. WESHALB IST DAS IHRER MEINUNG NACH SO?
Man hat sie nun Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte lang marginalisiert. Man schiebt sie beispielsweise einfach in Pflegeheime ab, oder solche mit psychischen Behinderungen in entsprechende Kliniken. Das ist sehr schnell passiert. Die einhergehende Meinung war, dass diese Betroffenen einfach Pflege und EssEn brauchen und jemand, der oder die sich um sie kümmert. Eine gesellschaftliche oder arbeitsmarktliche Teilhabe war lange Zeit tabu, weshalb man solche Leute nie richtig wahrnahm. Und die Invalidenversicherung, welche man in den 60er-Jahren installierte, zementiert das Bild eines defizitären Lebewesens zusätzlich: keine eigenen Fähigkeiten, Begabungen, Neigungen, Kompetenzen und schon gar kein Potenzial für beispielsweise irgendeine adaptierte Ausbildung. Denken Sie nur schon an die unmögliche Bezeichnung Invalidenversicherung. Das alles ist bei den Menschen tief in den Köpfen verankert.
Forderung eines Umbaus der Sozialversicherungen
AUCH WEGEN DEM FORDERN SIE EINEN UMBAU DER SOZIALVERSICHERUNGEN, INSBESONDERE DER IV. EINE RIESENDING IN DER SCHWEIZ, DIE SICH IMMER ETWAS SCHWERTUT MIT GROSSEN VERÄNDERUNGEN UND ERST RECHT MIT EINER KOMPLETTEN SYSTEMÄNDERUNG …
… Klar wäre das ein enormer Umbruch der gesamten Sozialversicherung, der schrittweise erfolgen muss. Das bräuchte natürlich gute Konzepte. Wichtig ist, dass wir endlich vom defizitären Denken wegkommen und Kompetenzzentren einrichten, in denen auch Betroffene arbeiten, die wissen um was es geht.
ABER SIE STÖREN SICH JA AUCH AM INVALIDENVERSICHERUNG SELBST …
… Das auch, ja. Er bEdeutet für mich nichts anderes als minderwertig und wertlos.
SIE SETZEN SICH AUCH IM KANTONSRAT FÜR SOLCHE THEMEN EIN. DAS WÜRDE SICH SICHERLICH NICHT ÄNDERN, SOLLTEN SIE IM HERBST FÜR AUFRECHT IN DEN NATIONALRAT GEWÄHLT WERDEN, ODER?
Natürlich würde sich daran nichts ändern. Ich muss aber hierzu gleich anfügen, dass ich neu nicht für Aufrecht, sondern für den Verein Massvoll kandidiere. Der wollte sich zwar ursprünglich nicht politisch engagieren, aber aufgrund der Entwicklung hat man sich umentschieden.
Barbara Müller hofft, die Behindertensession wird nicht zur Alibiübung und die dort debattierte Resolution Auswirkungen haben. Ihrer Meinung nach könnte man auch ein Behindertenparlament einführen, zum Beispiel im Stile des bestehenden Jugendparlaments. Oder zumindest soll diese Session ein Startschuss zu regelmässigen weiteren werden!
TEXT UND INTERVIEW: RENÉ FISCHER