Im Bildersturm in Oberstammheim nach Frauenfeld entrissen
21.09.2024 RegionDas Altarbild in der St. Anna Kapelle in Frauenfeld-Oberkirch ist ganz in Stille getaucht und unumstritten. Zur Reformationszeit vor 500 Jahren jedoch verursachten kirchliche Heiligenbilder explosiven Zündstoff. Stammheim, Frauenfeld, Elgg und Tänikon bieten dazu ...
Das Altarbild in der St. Anna Kapelle in Frauenfeld-Oberkirch ist ganz in Stille getaucht und unumstritten. Zur Reformationszeit vor 500 Jahren jedoch verursachten kirchliche Heiligenbilder explosiven Zündstoff. Stammheim, Frauenfeld, Elgg und Tänikon bieten dazu Anschauungsunterricht.
Kaum waren in der neuen Stadtkirche in Elgg die Altäre eingeweiht und die farbigen Malereien der Heiligen vertrocknet, liess sie die Mehrheit der Bevölkerung entfernen und übertünchen. Auch im Frauenkloster Tänikon verschwanden 1528 die Altäre und Bilder aus der Kirche. Ein Bild der heiligen Anna hingegen soll von einer Bäuerin, vom brennenden Scheiterhaufen an der Lützelmurg, ausserhalb der Klosteranlage, gerettet worden sein. Jedoch im Refektorium (Speisesaal) überstand das 1519 entstandene Wandbild mit einer um St. Anna selbdritt gruppierten «Heiligen Sippe» die Jahrhunderte. Es war – vom Zahn der Zeit und mangels menschlichem Verständnis – stark beschädigt und wurde erst 1906 für ein Museum in Frauenfeld abgelöst. Die bald einsetzende Rekatholisierung Tänikons verlieh der St. Anna-Verehrung wiederum einen gewaltigen Schub, was sich im Bau der St. Anna Kapelle manifestiert und sich um 1700, nebst der Errichtung eines Wegkreuzes im Rebberg, auch in einem dem Bildstock im Ettenhauser Kienberg beigefügten St. Annenbild fortsetzt.
Das bemerkenswerte Frauenfelder Altarbild
Am Marien- oder St. Annenbild in Frauenfeld-Oberkirch hängt eine bemerkenswerte Geschichte! Zwei uralte Gotteshäuser stehen hier zwar nahe beieinander und sind doch auffallend im rechten Winkel voneinander getrennt, dem Morgen- und dem Mittagslicht entgegengestreckt. Bei unserem Besuch in der gewichtigen Laurentiuskirche und der ehrwürdigen Annakapelle ist Mittagsruhe. Kein Mensch ist in den zwei kunsthistorischen Schwergewichten Frauenfelds anzutreffen. In der Kirche des Laurentius weichen die kleinen blauen Farbfenster sogleich zurück. Das ochsenrote Gebälk in der Annakapelle jedoch wehrt nicht ab; es erhöht das farbige Maria-Totenbild.
Das spätgotische Gemälde am Altar zeigt den Tod Mariens oder Annas, umgeben von zehn Aposteln und Christus, der ihre weissgekleidete Seele in seinen Armen hält. Die andachtsvolle Darstellung verbindet sich mit der profanen Ausschmückung verschiedener Textilien, vom einfachen Bettzeug bis hin zur prachtvollen Brokatdecke. Zu Füssen des Bettes stehen Lampe, Krug und Weihwedel. Das 175 cm hohe und 120 cm breite Ölgemälde ist im Laufe der Zeit überarbeitet worden, zuunterst mit erklärenden Beischriften und Wappen.
Sehr bemerkenswert aber ist der Umstand, dass dieses Altarbild aus der heute nicht mehr existierenden St. Anna Kapelle in Oberstammheim stammt, wo es einst als Wunder bewirkend galt und eine vielbegangene Wallfahrt anstiess. Von dort gelangte es jedoch, anlässlich heftiger Bilderverbrennungen im thurgauisch-zürcherischen Grenzgebiet, über Winterthur zu Landammann Johann Heinrich Fehr nach Frauenfeld und wurde 1541 der Kapelle in Oberkirch vergabt.
St. Anna in Oberstammheim
Die St. Anna Kapelle in Stammheim wurde erst anfangs des 16. Jahrhunderts gebaut, wenige hundert Meter östlich der romanischen Galluskapelle aus dem 11./12. Jahrhundert. Zur materiellen Unterstützung der Gottesdienste, der Seelsorge und der Pilgerbetreuung dienten jährliche Erträge aus dem Oberhof in Eschenz, aus je einem Hof in Aesch bei Neftenbach, in Andelfingen und Ossingen sowie aus dem Lorisgut in Nussbaumen. Bald wurde von Gebetserhörungen berichtet: «Vielfache grosse Wunderzeichen sind geschehen etlich Zyt und Jahr an der statt an manchen Kranken, Lahmen und Beswärten, sonderheit der grusamlichen herten Krankheit der Blattern (Pocken) (...) Darum war bald ein grosser Zudrang dahin.»
Nun sollte auch ein Priester anwesend sein, um den Pilgern die Beichte abzunehmen und die Messe zu lesen. Der Sankt Galler Abt Franziskus erlaubte eine Kaplaneistiftung, mit Haus und Hofstatt, nebst 3 Jucharten Feld und Weingarten bei St. Anna. Als Zeichen besonderer Gunst und Gnade und als Anerkennung dafür, dass «sonderlich der ehrbare unser lieber getrüwe Hans Wirth, Vogt, merklich Flyss, Trüw und Arbeit daruf verwendet», versprach er ihm, den gleichnamigen Sohn zum ersten Priester an dieser Kaplanei zu ernennen, sobald er die priesterlichen Weihen empfangen habe. Johann Wirth wurde am 21. Februar 1510 vom Bischof Hugo zu Konstanz feierlich in sein Amt eingesetzt. Wir begegnen später demselben Vogt Hans Wirth und seinen Söhnen Johann und Adrian beim Ittinger Sturm 1524 und schliesslich beim bitteren Strafprozess mit Hinrichtungen wieder.
Vorerst jedoch erfuhren die Wallfahrten nach St. Anna und seinem Bild einen geradezu stürmischen Aufschwung. Welche Ausdehnung die Wallfahrten angenommen hatten, lässt sich indirekt an den verbliebenen 28 Messgewändern und 5 Kelchen ermessen. Täglich reisten Pilger aller Art aus der Umgebung herbei, besonders aus dem Thurgau und der übrigen Eidgenossenschaft. Sie verschmähten es nicht (liest es sich nach der Reformation), eine Pilgerfahrt «zu der halgen (heiligen) St. Anna zu Oberstammen anzutreten: In Summa, der Götz was ein rächter Landgötz und was der Ort hoch und werth gehalten.» Zu den Pilgern gehörten auch vornehme Leute, wie Ratsherr Junker Hans Stockar von Schaffhausen, der 1519 ins Heilige Land, wo er sich zum Ritter schlagen liess, und darauf nach St. Jago di Campostella in Spanien, dem zweitberühmtesten Wallfahrtsort des Abendlandes, gepilgert war.
St. Anna und Anna selbdritt in Elgg
Die heilige Anna fand bis zur Reformation auch in Elgg Verehrung, besonders am St. Annentag, am 26. Juli. Das Elgger Jahrzeitenbuch erwähnt ihren Altar. Er soll im vorderen Teil des Kirchenschiffs auf der Südseite, in der rechten Ecke ausserhalb des Chors gestanden haben. Die Stiftung des Altars und seiner Pfründe geht auf die Familie Hilflin zurück. Dorothea Hilflin vermachte am 15. November 1503 der Kirche Elgg 40 Pfund Heller zu einem ewigen Jahrzeit (Gedächtnisfeier), mit der Bedingung, dass auch der Kaplan des neuen Annaaltars bei der Totenfeier mitwirke, zusammen mit den vier bereits amtierenden Kaplänen am Frühmess-, Unser-Frauen-, des Heiligen-Kreuzes- und des St. Martin-Altars. Sie schenkte dem Altar ausserdem einen Kelch. Im Jahre 1506 bekräftigten Jakob Hilflin von Niederschlatt und seine Schwester Adelheit von Elgg die Altarpfründe.
Trotzdem erhielt der St. Anna-Altar nie einen eigenen Priester. «Das Einkommen der Pfründe scheint nicht sehr bedeutend gewesen zu sein.» Anna aber war nicht nur Patronin ihres Altars, sie thront seit der Restauration der Reformierten Kirche in den 1960er Jahren wieder in den Malereien zur Heiligen Sippe (der nächsten Verwandten von Jesus), im Scheitel auf der Innenseite des Chorbogens als Anna selbdritt (Hl. Anna, Maria und das Jesuskind). Anna sitzt und hält ihre Tochter Maria sowie ihren Enkel Jesus im Arm (darum Anna selbdritt). Darunter folgen auf der Nordseite Joachim und Joseph, die Ehegatten Annas und Marias. Die weiteren Figuren sind Maria Kleophas und vier ihrer Söhne: Jacobus minor und Barnabas (oder Justus?) sitzen unten im Arm ihrer Mutter, während Simon Zelotes und Judas Thaddäus darüber in kleineren Blüten angeordnet sind. Auf der Südseite entsprechen ihnen Maria Salome mit Johannes Evangelist im Arm (unten) und Jacobus major in einer separaten Blüte (oben). Das Bildmotiv der gegenüber «Anna selbdritt» zahlreicheren «Heiligen Sippe» beruht auf der legendären Überlieferung. Die wachsenden genealogischen Interessen der Fürstenhäuser führten dazu, dass seit dem 14. Jahrhundert die Verwandtschaftsbeziehungen Christi stärker in den Blickpunkt des Interesses rückten und bildlich dargestellt wurden.
Anna in Geschichte und Gegenwart
In apokryphen Evangelien wird Anna als Mutter Marias und als Grossmutter Jesu bezeichnet. Es breitet sich der Annenkult aus. Bruderschaften und Altäre werden gegründet. Das Bild der »Anna Selbdritt« wird beliebt. Schon 550 wird für Anna in Konstantinopel eine Kirche errichtet. Ihr folgt 1142 in Jerusalem neben dem Bethesda-Teich eine Annakirche. 1481 lässt ein Papst den Gedenktag der Anna in den römischen Kalender aufnehmen. 1584 bestimmt Papst Gregor XIII. ihn auf den 26. Juli. Anna gilt als Patronin der Mütter und einer Reihe von Begünstigten. Sie soll auch im Gewitter schützen. Darum schreit der Jusstudent Martin Luther am 2. Juli 1505 im Schreck, als ein Blitzstrahl auf seinen Studienfreund niederfährt: »Hilf du, Anna, ich will ein Mönch werden«! Am 17. Juli tritt Luther in das Erfurter Augustinereremitenkloster ein.
Die heilige Anna in der Kritik
Bis vor Pfingsten 1524 sind Johann und sein jüngerer Bruder Adrian Wirth Kapläne an der Oberstammheimer St. Anna-Kapelle. Aber sie werden Kritiker des Pilgerwesens. Beide seien «by Sant Anna gesessen und weder Mess gehalten noch gebettet, und so Bilgerin [Pilger und Pilgerinnen] dahin sind kommen, deren gespottet, und in sunder [insbesondere] Adrian mit siner Frowen; item, wenn Bilger zu Herr Hansen sind kommen und hettind gern gehept, dass er ihnen hett Mess gelesen, hat er’s nit wellen thuan.»
Zwingli verfolgt die Stammheimer Ereignisse mit grossem Interesse. In seiner Schrift «De vera et falsa religione commentarius» geht er ausführlich auf den St. Anna-Kult in Stammheim ein: «Zu einer gewissen Anna – denn ob die Mutter der jungfräulichen Gottesgebärerin so hiess, ist aus der Heiligen Schrift nicht zu erweisen; aber lassen wir ihr diesen Namen – schau, wie wir da ein Bild verherrlichten, das der Maler oder besser: unser Wahnwitz zum Gott erhob. Alle Kirchenbilder bringen diese Gefährdung mit sich.»
Zwar entfernten die Stammheimer in der Reformationszeit die Heiligenbilder aus ihrer St. Anna-Kapelle, nicht aber die Kapelle selber! Das beweist eine Akte im Staatsarchiv Zürich vom 26. Juli 1823, mit dem Beschluss des Regierungsrates des Kantons Zürich: »Der Schaden, welcher an der St. Anna-Kapelle zu Stammheim durch Blitzeinschlag verursacht worden ist, wird vergütet.» Der Ort war zu einer Helferei und zu einer Schule geworden, von wo ein Diakon kirchlich und schulisch Oberstammheim, Nussbaumen und Uerschhausen betreut.
Beeindruckt vom Gesehenen in Frauenfeld-Oberkirch wird der Besucher abrupt in die säkulare Gegenwart gestossen. Trauernde entsteigen den Autos, recken sich in ihren Mänteln und nähern sich dem Friedhof. Auch der öffentliche Mittagsverkehr wächst. Der blaue Bus findet kurz seine Haltestelle und wählt sogleich die Weiterfahrt.
MARKUS SCHÄR
Noch immer beliebte Vornamen
Bis in die Gegenwart liegen Anna und Maria an der Spitze der weiblichen Vornamen. Laut dem neuesten NZZ-Folio gehören sie zu den wenigen Namen, die nie aus der Mode kamen. Die Maria-Dominanz in den westlichen Ländern ist bemerkenswert: In der Schweiz sind es 76’000 Marias gegenüber 40’000 Annas. Viele Schweizer Marias stammen ursprünglich aus katholisch geprägten Ländern. In der Stadt Zürich heisst jede fünfte Portugiesin und jede zehnte Spanierin Maria.