Grosse Kleinkunst, kleine Grosskunst und alles dazwischen
14.03.2023 AadorfEngland muss sich noch ein paar Wochen bis zu den Krönungsfeierlichkeiten von Charles III gedulden. In Aadorf hingegen hiess es bereits am Freitag- und Samstagabend: Demokratie ade, es lebe die Monarchie. Nationale und internationale Neuentdeckungen bewarben sich um die begehrten ...
England muss sich noch ein paar Wochen bis zu den Krönungsfeierlichkeiten von Charles III gedulden. In Aadorf hingegen hiess es bereits am Freitag- und Samstagabend: Demokratie ade, es lebe die Monarchie. Nationale und internationale Neuentdeckungen bewarben sich um die begehrten Kronen.
Bereits zum 16. Mal lud der Kulturveranstalter Gong zur «Krönung», dem beliebten Kleinkunstfestival, in den Gemeindesaal, wo sich an zwei Tagen insgesamt 15 Kunstschaffende der Wahl stellten. Durch das Freitagsprogramm führte der Berner Christoph Simon, ein grossartiger Wortakrobat und Feindenker, der zwischen den Auftritten immer wieder von seinem Chataustausch mit König Charles III und der Komplexität unseres Daseins erzählte. Wer hat sich schon einmal Gedanken über ein Leben als Teelöffel gemacht? Stets im kochenden Wasser, Zucker umrührend und verheddert im Faden des Teebeutels ...
Mit diesen tiefgreifenden Tatsachen übergab er die Bühne Katrin Geelvink, die mit ihrem Cello meist den richtigen Ton traf, akustisch und textlich. Scharfzüngig führte sie das Publikum durch eine Hotline für von Schlafstörungen geplagte, die mit verschiedenen Techniken mehr oder weniger erfolgreich Abhilfe schaffen sollte. Ihr folgte die junge Ostschweizerin Poetry-Slammerin Mia Ackermann, die von ihrer Kunst sagt, sie sei wie Musik ohne Musik. Die mit Worten, scharf wie Pfeffer, dem Patriarchat den Kampf angesagt hat. Sie rappte schnelle Texte, sprach über ihre ersten Kusserfahrungen und forderte mehr Selbstbestimmung. Ebenfalls aus der Ostschweiz stammte die letzte Künstlerin des ersten Blocks: Conny Dierauer-Jahn aus Oberuzwil entführte in die 80er-Jahre. Eine Zeit, in der man noch neben dem Telefon auf einen Anruf warten musste und auf dem Röhrenfernseher Platz für Figuren aus Salzteig war. Die Zeit, wo man am Sonntag mit dem «Kasettli» die Hitparade aufnahm und sich ärgerte, wenn der Moderator ständig redete. Nur mit ihrer Stimme und einem Loop-Gerät liess sie die Vergangenheit wieder aufleben.
Freitagskönigin wurde Berliner Pfarrerstochter
Nach der langen Pause würdigte Christoph Simon den Mut der Kleinkunstschaffenden: «Trotz des Wissens, dass sie auf der Bühne absolut nichts für den Weltfrieden erreichen, stehen sie hier.» Besagten Mut bewiesen als erste die bayerische Cellistin Lucia Schneider-Menze und die Schweizer Sängerin Julia Schiwowa. Mit ihren Klappmaulpuppen Dagmar und Egon nahmen sie sich aktuellen Herausforderungen unserer Zeit an: Dem Kampf, den die Älteren zusehends mit der fortschreitenden Technik ausfechten (müssen) und der mit dem Älterwerden oft einhergehenden Einsamkeit. Begleitet von Cello- und Klavierspiel begeisterten sie mit Poesie, Wortkunst, Witz und Klangtiefsinn.
Ihnen folgte der Berner Andreas Iseli, der in seinem Kabarettprogramm das Publikum mit auf eine turbulente Reise nahm. Das Lachen der einen Geschichte blieb bei der nächsten im Hals stecken. Ob seine äusserst zweifelhaften Geschäftsideen allerdings von Erfolg gekrönt sein würden, blieb dahingestellt. Anstelle des angekündigten Olaf Bossi, der ausfiel, präsentierte die junge Gina Walter aus dem Baselbiet unter anderem ihre Liebe zu Pasta, die zwar eine gewisse Toleranz verträgt, aber bei Ketchup und zerschnittenen Spaghetti ein abruptes Ende findet. Ihre rasanten Texte, die lustig, betroffen und nachdenklich zugleich machen, sind Zeugnis und Beweis für ihren Schweizermeistertitel in der Kategorie U20 von 2017.
Als letzte dieses ersten Abends betrat mit der Pfarrerstochter Caroline Bungeroth aus Berlin, die künftige Königin die Bühne. Sie begeisterte mit ihren Erzählungen aus der Kindheit, dem drill an der elitären Musikhochschule und philosophierte singend über das Frauenbild in Opern. Mit Situationskomik, Witz und unverfrorenem Charme riss sie zur späten Stunde das Publikum mit und animierte alle im Saal, gemeinsam glücklich zu sein. Simon, der den Wechsel von Kunstschaffenden und Bühnenausstattung jeweils für Erzählungen aus seinem Alltag nutzte, den Gästen dabei nicht nur Charles näherbrachte, sondern auch Freunde im Co-Working-Space, hätte eine eigene Krone verdient. Mit subtilem Humor und träfen Wortspielen über Figuren wie den Maler Lenin, der natürlich anders heisst, ist er während der fünf Stunden wahrscheinlich vielen ans Herz gewachsen.
Ab in den zweiten Festivalabend
Um am zweiten Abend die oberste Hoheit zu krönen, stand Kilian Ziegler mit sympathischstem Oltnerdialekt auf der Bühne bereit. Der Moderator des Abends begrüsste die Gäste, die für ihn aufgrund der Nebeleffekte nur schwer zu deuten waren. Ist wahrscheinlich auch besser so, meinte er. «Kennt jemand von euch den Verkehrsknotenpunkt Olten?» Die Gästeschar bejahte im Chor, woraufhin Ziegler seine Frage besser formulierte: «Wer von Ihnen war schon mal freiwillig dort?» Er selbst fahre ja lieber Zug, da er zunehmend aggressiver wurde als er mit dem Autofahren begann. Einst drängelte sich eine ältere Dame in der Migros vor, woraufhin er wie wild damit begann, ihr Lichtsignale mit einer Taschenlampe zu senden. Der Moderator schien des Weiteren auch gut erzogen, denn er vergewisserte sich bei seinem Publikum, ob heute Abend geduzt werden dürfe. Man wäre schliesslich im selben Alter, meinte er augenzwinkernd. «Das Alter ist nur eine Zahl. Doch wer das Schweizer Radio und Fernsehen nicht nur verfolgt, sondern auch mag, weiss, dass er älter geworden ist.»
Nach einem Sorry für sein vielleicht etwas mühsames «Oltedütsch» kündigte Ziegler die erste Künstlerin des Abends an, die angeblich wie Prosecco performt: die charmante Nina Wägli. Das sprudelnde Energiebündel erzählte sogleich von ihrem Werdegang. Die ehemalige Flugbegleiterin möchte sich neu orientieren. Blöd, dass sie von allem ein wenig kann, doch nichts wirklich richtig. Welche Möglichkeiten bleiben ihr da übrig? Genau, der Weg in die Politik. «Wind, wändig, Wägli, das git schöni Wädli» – ein hervorragender Werbespruch für die nächste Grünkampagne. Oder lieber zur SVP mit «Wägli schafft au(e)s»? Da käme die Bernerin mit links auf die Liste.
Übermut tut selten gut
Der zweite Künstler, stolzer Besitzer des Schweizermeistertitels im U20-Poetry-Slam, ausgezeichnet für seine grossartigen Schreibtalente: Jeremy Chavez. Diesen Abend widmete sich der 23-Jährige dem Thema Mut. Der Künstler mit Migrationshintergrund gab seine Lieblingspartei offen kund: «Natürlich ist es die Mitte.» Einfach mal aufstehen und sich gegen alles wehren, brauche Mut. Doch was bedeutet das eigentlich? «Mut ist relativ. Mut ist zum Beispiel, 20 Minuten zu lesen und sich genug bereit für eine politische Diskussion zu fühlen.»
Der nächste Act kam im Duo: der Musiker und Drummer Benjamin Brodeck, Taktangeber für den talentierten Jongleur Jonas Althaus. Moderator Kilian Ziegler meinte vorab, er selbst besässe keine musikalischen Talente. Blockflötenspielen mache einfach wenig Sinn. Für was gibts Löcher, wenn man sie sowieso zuhalten muss? Nicht zu-, sondern festhalten musste Althaus seine Bälle. Unter stiller Faszination performte der Künstler, während der Schlagzeuger mal harmonisch, mal fordernd seine Jonglage unterstrich.
In der Kneipe oder doch lieber familienfreundlich?
Stand der Favorit des Abends schon fest? Das hofften die ehemaligen Stammgäste Charlie und Ueli und vor allem die einstige Wirtin Romy Wälchli alias Sabina Deutsch jedenfalls nicht. Nach einstündigem Unterbruch ging es mit der traurigen Geschichte über ihr abgerissenes Restaurant Friedau weiter. Der früheren Kneipenbetreiberin liegt das Wohl der Gäste nach wie vor am Herzen und sie fragte gleich im Publikum nach: «Konnten Sie in der Pause etwas trinken?» Berührend erzählte sie, dass ihr geliebtes Restaurant durch eine Mehrgenerationensiedlung ersetzt wurde. Wo sie früher Gäste empfing, befindet sich nun ein extra grosser Parkplatz für Veloanhänger. Die rassige Ex-Gastronomin nahms locker und sang: «Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt auf Erden nicht nur den einen.»
Etliche Preise konnte der nächste Performer bereits entgegennehmen: Sven Garrecht. Leider habe Kilian Ziegler bei seiner Ankündigung etwas vergessen: «Mir ist es wichtig, dass Sie wissen, dass ich als Kind mal eine Murmel verschluckte.» Stolz berichtete der Liedermacher, diese vor zwei Wochen wieder gefunden zu haben. «Der erste, der meinen Namen zuoberst auf die Liste setzt, darf diese Murmel behalten.» Mit viel Humor dichtete sich der Kabarettist grossen und kleinen Fragen entlang, witzelte über seine Kurzsichtigkeit auf dem rechten Auge und wünschte sich, dass attraktivere Menschen heute Abend links von ihm sitzen.
Sonja Pikart, die nächste Komikerin, zog kürzlich den Schlussstrich im Onlineshopping. Die deutsche Schauspielerin will einfach nicht mehr. Dabei ginge es nicht um CO2-Ausstösse oder miserable Arbeitsbedingungen. Aus viel banaleren Gründen hat sie die Schnauze voll: «20 Prozent meiner Lebenszeit geht fürs Bewertungen lesen drauf.» Wie schön waren doch die Zeiten, als man früher bei Tchibo vorbeischlenderte und plötzlich ein heruntergesetzter Eierschneider ins Auge stach.
Der König der Kleinkunstwelt
Last but not least: Als krönender Abschluss liess es ein weiteres Zweiergespann nochmals richtig krachen: das musikalisch humorvolle Duo Amuse Bouche. Nicht fehlerfrei, doch ziemlich nah dran sangen sie: «Wir beide sind Künstler schon seit mehr als zehn Jahren, so rast die Zeit. Wir sind nicht perfekt … aber verdammt nah dran.»
Wer wurde am Ende Hofnarr, Prinzessin oder sogar Majestät? Allen Künstlern wurde ein fürstlicher Titel verliehen. Kurz vor Mitternacht, als schliesslich der letzte Stimmzettel ausgewertet wurde, war die Zeit gekommen, um den Höchsten beim Namen zu nennen. Die Krone wurde zuletzt verliehen und es liess sich für viele bereits erahnen, dass der 16. König und Anwärter auf die abschliessende Late-Night-Show Sven Garrecht heisst. Hoch lebe der Kleinkunstkönig!
MARIANNE BURGENER, JULIA MANTEL