Gilt auch bei uns bald Wald vor Wild?
22.10.2024 EulachtalRund ein Drittel der Schweiz besteht aus Wald. Und diesem droht Ungemach: Neben Klimawandel und Hitzesommern vor allem durch Reh, Hirsch und Gämse. Durch deren Verbiss wachsen zu wenig Bäume nach. Ist dies auch im Eulachtal ein Problem?
Kürzlich ...
Rund ein Drittel der Schweiz besteht aus Wald. Und diesem droht Ungemach: Neben Klimawandel und Hitzesommern vor allem durch Reh, Hirsch und Gämse. Durch deren Verbiss wachsen zu wenig Bäume nach. Ist dies auch im Eulachtal ein Problem?
Kürzlich veröffentlichten mehrere Interessensgruppen – WaldSchweiz (Verband der Waldeigentümer), die Schweizerische Gebirgswaldpflegegruppe, der Schweizerische Forstverein und der Verband der Berner Waldbesitzer – das Positionspapier «Waldverjüngung unter Druck». Wald-Schweiz titelte anschliessend in einer Pressemitteilung: «Die Zukunft unserer Wälder ist in Gefahr, es ist höchste Zeit zu handeln!» Schuld an der Misere sei – neben dem Klimawandel, der einen Waldumbau auf klimastabilere Arten erfordere – das Schalenwild.
Schalenwild? Dies ist die Bezeichnung für die dem Jagdrecht unterliegenden Paarhufer. Konkret geht es in den heimischen Wäldern vor allem um das Reh, in deutlich geringerem Ausmass auch um Hirsch und Gämse. Die Tiere würden das Nachwachsen junger Bäume verhindern. Über weite Waldflächen, insbesondere im Gebirgswald, aber auch in Tieflagen, nähmen Verbiss, Fegen und Schälen der jungen Bäume zu (siehe Box «Was sind Verbiss-, Fege- und Schälschäden?» auf Seite 7).
Laut Pressemitteilung von WaldSchweiz müssten die Verjüngungsprobleme in den nächsten Jahren gelöst werden, damit der Wald auch in Zukunft seine unbestritten wichtigen Funktionen erfüllen kann. In manchen Gebieten könne dies nur durch eine Reduzierung der genannten Schalenwildbestände erreicht werden. Gilt dies auch in der Region Aadorf, Elgg und Hagenbuch?
Auf Spurensuche im heimischen Wald
Vor Ort im Schneitberger Wald: Der Himmel ist an diesem Vormittag bedeckt, die Wege noch matschig vom Regen der letzten Tage. Reto Müller, Obmann der Jagdgesellschaft Hagenbuch, führt durch sein Revier. «Hier im Schneitberg sind Verbissschäden kein grosses Problem», berichtet er, «mehr beschäftigen mich Fegeschäden durch den Rehbock.» Müller versucht durch eine einfache Methode, diese zu minimieren: Jedes Jahr besorgt er sich Zweige von Kopfweiden und steckt zahlreiche davon im Revier in den Boden. Sind diese dann angewurzelt und treiben aus, werden sie als «Opferstecklinge» von den Böcken gerne zum Fegen angenommen – mit absehbaren Folgen. «Es kommen kaum welche von diesen Weiden durch», sagt Müller ohne Bedauern.
Ein Blick auf die Zusammensetzung der Waldflächen verrät: Beim Privatwald finden sich noch einige Monokultur-Flächen, «Waldacker» nennt Müller diese. Hier erreicht kaum ein Sonnenstrahl den Boden. Der Jäger erläutert: «Der wesentliche Faktor für den Jungwuchs ist das Licht. Wo aufgelockerte Flächen sind, schiessen auch die kleinen Bäumchen schnell in die Höhe.» Als dann der Himmel aufreisst und die Sonne herauskommt, sind die Unterschiede augenfällig: In den lichten, durchforsteten Flächen ist deutlich mehr Naturverjüngung zu sehen, also aus Samen von vorhandenen Bäumen aufgegangene Jungpflanzen. Überall, wo die Sonnenstrahlen den Waldboden treffen, spriesst frisches Grün.
Folgerichtig präsentiert sich auf den Flächen des Forstreviers Elgg ein scheinbar gesunder Mischwald: Verschiedenste Baumarten, unter anderem Lärchen, Ahorn, Eschen, Buchen, Tannen und Fichten unterschiedlichen Alters – erkennbar ein möglichst naturnaher Zustand. Auch einzelne Eiben zeigt der Jäger. Die jungen Eiben müssen aber doch speziell geschützt werden. Sie werden ganz besonders gern von Reh- und Rotwild angeknabbert.
Ohne Schutzmassnahmen geht es nicht
Im dicht stehenden Jungwuchs aus überwiegend Weisstannen sind tatsächlich nur wenige Verbissschäden zu finden. Anders bei einzelnstehenden jungen Laubbäumchen: Diese sind mit Draht-, Holz- oder Plastikumzäunungen versehen. An einer freistehenden Weisstanne befindet sich ein sogenannter Terminaltriebschutz, also eine stachelige, kleine Plastikkappe, die die Triebspitze vor Verbiss schützt. Und die erwähnten Eiben sind in einem Holzverschlag streng gesichert. Bleibt also festzuhalten: Kein grosses Verbissproblem mit Schutzmassnahmen. Wie es ganz ohne Eingriffe aussehen würde, kann niemand genau sagen.
Was bedeuten aber diese Schutzmassnahmen für den Forstbetrieb an Belastung? Roman Brazerol dazu: «Alleine für den Wald der Gemeinde Elgg investierten wir jährlich 10’000 bis 15’000 Franken.» Die Gemeinde Aadorf hat im Jahr 2023 rund 8800 Franken in Material zur Wildschadenverhütung investiert. Die Arbeitsstunden der Forstleute sind dabei nicht eingerechnet.
Jäger Reto Müller betont, dass die Zusammenarbeit mit den Waldbesitzern gut sei. Auch Förster Roman Brazerol von Forst Elgg bestätigt dies: «Wichtig finde ich es, dass ein guter und regelmässiger Austausch zwischen Forst und Jagd geführt wird. So können Problemzonen schnell geklärt und gemeinsam für ein gutes Waldbild und Lebensraum gesorgt werden.» Der gleichen Meinung ist Urs Fuchs, Revierförster und Betriebsleiter des Forstreviers Wellenberg, zu dem auch die Gemeinde Aadorf gehört: «Wir sind im Austausch mit den Jagdgesellschaften. Insbesondere in unserem Forstrevier haben wir einen guten Konsens.»
Wald ohne Wild?
Vom Gesetz her gilt: Der Bund ist für die Sicherstellung der Waldleistungen verantwortlich. Und die diesbezüglichen Forderungen aus dem Forst sind klar: Die Kantone müssten bei der Um setzung der Wald- und Jagdgesetzgebung stärker in die Pflicht genommen werden. Ein einheitliches Controllingsystem mit klaren Zielvorgaben sei zu entwickeln, um eine schweizweite Vergleichbarkeit von Zustand und Veränderungen der Waldverjüngung, des Wildverbisses und der Schalenwildpopulationen zu ermöglichen. Controlling allein wird aber am Zustand der Wälder nichts verändern.
Anderswo ist dagegen schon längst in Gesetzesform festgehalten, was nach dem Willen der Waldlobby wohl auch in der Schweiz Einzug halten soll. Die Parole lautet: «Wald vor Wild». Was aber wäre der Schweizer Wald ohne Schalenwild? Ein kurzer Blick zurück in die Mitte des 19. Jahrhunderts genügt: Damals waren sowohl ein Grossteil der Wälder verschwunden – und mit diesen, die dort lebenden Wildarten.
Eine strenge Bundespolitik zur Förderung der Wildbestände und damit verbundene Massnahmen mit dem klaren Ziel, Bestände zu fördern, wurde bis Ende der 1980er Jahre verfolgt. Inzwischen gibt es in der Schweiz schätzungsweise 135’000 Rehe, etwa 86’000 Gämsen und rund 40’000 Rothirsche. Europaweit hat die Schweiz die vierthöchste Schalenwild-Dichte. Eine Trendwende ist derzeit nicht in Sicht.
Luchs und Wolf
Nicht nur die Jägerschaft soll den Wald schützen. Auch die Rückkehr der grossen Beutegreifer soll helfen. Im Positionspapier der Waldbesitzer heisst es hierzu: «Positive Effekte der Grossraubtiere wie Luchs und Wolf auf die Waldverjüngung müssen beim Raubtiermanagement berücksichtigt werden». Und weiter: «Die Grossraubtiere alleine lösen das Verjüngungsproblem nicht, sie nehmen jedoch Einfluss auf die räumliche Verteilung, das Verhalten und die Grösse der Schalenwildbestände und begünstigen damit grundsätzlich die Waldverjüngung.»
Vor allem die räumliche Verteilung dürfte hier Auswirkungen haben. Laut ETH Zürich, Seminar Umweltsysteme, schaffen Räuber sogenannte «Landscapes of fear», Landschaften der Angst. Dadurch ist das Wild eingeschüchtert und hält sich nicht mehr lange im Unterholz oder in dicht bewachsenen Waldteilen auf, weil Fluchtmöglichkeiten dort eingeschränkt sind. In diesen Bereichen gäbe es deutlich weniger Verbiss. Allerdings ist auch die Rückkehr von Luchs und Wolf nicht unumstritten und wirft in der Kulturlandschaft neue Fragen auf.
Wild als Waldschädling
Es drängt sich der Eindruck auf, dass nur eine Reduzierung der Bestände das Problem löst. Die heimischen Förster betrachten die hohen Wildtierbestände jedoch durchaus differenziert. Urs Fuchs sagt dazu: «In unserer Region sind diese Probleme nur sehr lokal und kleinflächig vorhanden. Wenn Probleme in einem Waldgebiet vorhanden sind, wird das Gespräch mit den Jagdgesellschaften gesucht, welche dann den Abschuss in einem Gebiet erhöhen und versuchen, unserem Wunsch Rechnung zu tragen.» Der Elgger Förster Roman Brazerol meint: «Wir haben in unserem Forstrevier zehn verschiedene Jagdgesellschaften, mit denen wir jährlich im Frühling die Wildschäden besprechen und eventuell Handlungsbedarf definieren. An den meisten Orten sind die Wildbestände aus Sicht beider Parteien in Ordnung, aber der Abschuss, welchen der Kanton vorgibt, soll unbedingt erfüllt werden. Der Wildbestand darf nicht stärker steigen, sondern eher gesenkt werden.» Ein Vernichtungsfeldzug im heimischen Wald ist somit in naher Zukunft nicht zu erwarten.
Die vom Kanton Zürich an die Jagdgesellschaften ausgegebenen Abschusszahlen für das Jagdjahr spiegeln die Angaben von Brazerol wider. Diese wurden angehoben, zielen aber mit 130 bis 150 Prozent des jährlichen Zuwachses immer noch auf eine mittlere Bestandesreduzierung beim Rehwild ab. Insgesamt zeigt ein Blick in die eidgenössische Jagdstatistik über die letzten Jahre recht konstante Quoten, während die Bestände immer weiter steigen. Eine Lösung für den Konflikt Wald versus Wild ist nicht in Sicht.
Ist Verzicht die Lösung?
Vielleicht ist die Lösung auch nicht so einfach. Reh, Rothirsch und Gämse sind nicht per se dauerhafte Waldbewohner. Durch hohen Freizeitdruck haben sich die Tiere für den grössten Teil des Tages in den Wald zurückgezogen. Ständige Störungen durch den Menschen vermindern auch hier die Möglichkeit, den Standort zu wechseln und zur Nahrungssuche andere Gebiete aufzusuchen. Die Tiere kauern sich ins Dickicht der jungen Bäume und fressen, was sie vor der Nase haben: Knospen und frische Triebe. Einzelne Studien legen nahe, dass längst nicht nur die Höhe der Wildbestände für die Schäden am Jungwuchs ausschlaggebend ist, sondern vielmehr umfangreiche Störungen im Lebensraum.
Auch im Positionspapier zur Waldverjüngung wird das Thema angesprochen. Freizeitgesellschaft, Landwirtschaft und Raumplanung müssten einen positiven Beitrag für den Erhalt und die Aufwertung der Lebensräume leisten, konkret durch den Abbau von Störungseinflüssen mit Lenkungsmassnahmen: «Die Aufwertung und Erweiterung der Lebensräume und deren Vernetzung ausserhalb des Waldes verändern das Verhalten und die räumliche Verteilung des Schalenwildes.» Das bedeutet Verzicht – durch Wegegebote, zeitliche und räumliche Einschränkungen des Menschen. Aber freiwillig wird kaum jemand «seinen» Teil des Waldes aufgeben.
Auch in der Region Eulachtal braucht der Wald zum Wachsen bereits jetzt Unterstützung, und die hohen Wildbestände sind fraglos Teil des Problems. Wolf und Luchs werden diese nicht alleine ins Gleichgewicht bringen können, können aber helfen. Von der Politik müsste nun eine klare Stellungnahme kommen.
Quo vadis, Schweizer Wald? Eine einfache Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht. Aber vorrangiges Ziel für alle sind gesunde und klimastabile Wälder.
MELANIE HENNE-ISSING
Was sind Verbiss-, Fege- und Schälschäden?
Verbissschäden entstehen, wenn Pflanzenfresser die frischen Triebe der Bäume abfressen. Diese werden in ihrem Wachstum gestört.
Als Fegeschäden werden dagegen Verletzungen der Rinde von Bäumen bezeichnet. Sie entstehen, wenn Rehböcke oder auch Hirsche ihr Geweih an jungen Bäumen reiben. Jährlich wird das Geweih von den männlichen Tieren abgeworfen. Nachdem ein neues Geweih herangewachsen ist, löst sich die sogenannte Basthaut. Diese durchblutete Schicht stirbt ab und die Tiere versuchen, sie abzustreifen, bevorzugt an jüngeren Bäumen.
Für Schälschäden hingegen ist meist Rotwild – also Hirsche, deren weibliche Alttiere und die zugehörigen Kälber – verantwortlich. Im Sommer reissen sie lange Streifen dünner Rinde ab und «schälen» somit den Baum. Und auch im Winter wird gerne an der Rinde geknabbert.