Flammende Rede anstelle eines Funkens

  04.08.2022 Wittenwil

Die 1. Augustfeier in Wittenwil bot alles, was des Schweizers Herz für einen gelungenen Anlass begehrt: Ein üppiges Getränke- und Speisenbuffet, Festbänke, Sonnenschein, Musik, eine mitreissende Rede und schliesslich eine Schätzfrage mit schönen Preisen. Einzig den einsetzenden Regen hätte niemand gebraucht.

Auf dem Schulhausplatz war alles für ein gemütliches Fest angerichtet und in Rot-Weiss dekoriert, als die ersten Gäste eintrudelten und unter einem der Sonnenschirme Platz nahmen; Schattenplätze waren am frühen Abend ein rares Gut. Urs Kressibucher vom organisierenden Dorfverein Wittenwil-Weiern eröffnete den Anlass offiziell, erklärte den Ablauf und verdankte die fleissige Helferschaft, die das Fest erst möglich machte. Als eines der Highlights des Abends wurde die Ansprache des Thurgauer Kantonsrats Josef Gemperle von Die Mitte angekündigt. Dieser hob zu einer flammenden Rede ab, die den Anwesenden arg ins Gewissen zielte und bisweilen für konsternierte Gesichter sorgte. Geradezu sanft begann er und gratulierte dem Dorfverein für die Organisation des Anlasses am «echten» 1. August, dem eigentlichen Nationalfeiertag und nicht am Vortag, wie dies andernorts geschehe. Als Auftakt zu seinem Apell hoffte er darauf, dass jeder und jede diesen ertragen werde, schliesslich gedenke er, äusserst ehrliche Worte an sein Publikum zu richten.

Ressourcenmässig ein Leben auf Pump

«Wir leben im Wohlstand, jammern zwar hin und wieder, aber auf hohem Niveau. Schliesslich funktioniert in unserem Land nahezu alles perfekt.» Ein ganz anderes Bild der Schweiz würden die Medien in ihrer Berichterstattung regelmässig vermitteln. Als Beweisführung verlas der Kantonsrat eine Reihe von meist negativen und angstschürenden Schlagzeilen der letzten Tage und Wochen: Stressgeplagte Bäume aufgrund der Hitze, anhaltende Trockenheit, befürchtete Strom- und Gasmangellage ab kommendem Januar, Panikkäufe von allem, das Licht und Wärme verspreche und viele weitere aus dem In- und Ausland. Besonders eindringlich die Voten, dass die Menschheit ab jetzt ressourcenmässig für den Rest des Jahres auf Pump lebe, und das AKW Beznau trotz zu hoher Wassertemperatur der Aare weiterlaufen dürfe. «Für dortige Fische wird es nun kritisch. Es ist ein Zielkonflikt: Umweltschutz versus Versorgungssicherheit.»
Damit war auch das letzte Lächeln aus den Gesichtern der Anwesenden gewichen – mit ernsten Mienen wurde den Worten gelauscht. «Jedes ereignis betrifft uns alle. Wir leben in einer globalisierten Gesellschaft, keiner für sich allein. Die aufgezählten Schlagzeilen sprechen Themen an, die uns alle etwas angehen.»

Der weltweit sechstgrösste Verursacher von CO2
«Diese Themen beschäftigen mich seit meiner Wahl ins Thurgauer Parlament, schon lange bevor sie zum Trend wurden», fuhr er fort. Immer wieder habe er Rückschläge hinnehmen müssen, aufgrund von Eigen- und Sonderinteressen, die nur allzu oft vor dem Gemeinwohl stünden – von den Medien gezielt und gekonnt geschürt. Falschmeldungen verhinderten die Umsetzung von wichtigen Projekten, beispielsweise der gezielten Nutzung von Windkraft. Die Schweiz als kleines Land habe in der Klimafrage einen enormen Hebel in der Hand: «Wir verursachen global gesehen zwar nur 50 Millionen Tonnen CO2. Allerdings beträgt der konsumbedingte Fussabdruck unter Berücksichtigung des Imports von Produkten und Dienstleistungen mehr als das Doppelte. Rechnet man noch die Auswirkungen der Finanzindustrie dazu, die mit ihren Anlagen global Einfluss nimmt, dann sind wir als Schweiz für 1000 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr verantwortlich und damit der sechstgrösste Verursacher der Welt.»

Versorgungssicherheit auf Messers Schneide

Dann wechselte Gemperle das Thema und schlug den Bogen zur Versorgungssicherheit. Wir seien nach wie vor geblendet vom schier grenzenlosen Reichtum und würden dadurch den Sinn für die einfachen Dinge mehr und mehr verlieren. Wir würden von unserer harten Währung profitieren, die uns nebst tiefen Zinsen eine einzigartige Kaufkraft gebe. Aber auch das trügerische Gefühl, uns alles leisten zu können. Sie mache uns blind für die globalen Zusammenhänge: «Das Wichtigste ist die Versorgungssicherheit mit Grundnahrungsmitteln. Die Schweizer Landwirtschaft steht mit dem Rücken zur Wand. An- und Widersprüche werden immer mehr zum Problem. Sie arbeitet sehr effizient, trotzdem werden die Anforderungen stets verschärft, was zur Senkung des Selbstversorgungsgrads führt. Die Politik will mit ihren Anforderungen eigentlich nicht die Bauern, sondern die Bevölkerung umerziehen. Aber das ist nicht möglich, führt einzig und allein zu einer Senkung des Selbstversorgungsgrads, der zum jetzigen Zeitpunkt bei gerade mal 60 Prozent liegt.» Importierte Produkte seien in der Regel weniger umweltfreundlich als schweizerische, fuhr er fort. Weltweit bestünden keine Überschüsse an Nahrungsmitteln. Im Gegenteil: Es herrsche wieder vermehrt Hunger, auch wegen uns reichen Schweizern. Diese Tatsache mache ihn traurig, zeigte sich Gemperle, selbst Landwirt, betroffen.
Ebenso wichtig wie Nahrungsmittel sei Energie. Seit Jahren würde er für eine bessere Energiepolitik kämpfen. «Ohne Energie geht nichts mehr! Weder im Gesundheitswesen, noch in der Schule, noch sonst wo. Trotzdem fahren wir eine unverantwortliche Hochrisikostrategie. Ich verstehe nicht, wie wir nach wie vor auf eine Energiequelle setzen, die nachweislich unser Klima zur Sau macht», echauffierte sich der Kantonsrat. «Wir müssen weg von diesem Klumpenrisiko. Die Versorgung ist nicht mehr sicher; Kohlekraftwerke müssen abgestellt werden, Putin liefert kein Gas mehr und wir benehmen uns immer noch so, als könnten wir es uns leisten, innovative Projekte mit erneuerbarer Energie abzulehnen. Wir haben das Geld, die Technologie, aber setzen nicht um. Wir verteufeln die neuen Möglichkeiten, gerade im Bereich der Windkraft – erfunden meist von Werbefachleuten, finanziert durch die Öl- und Atomlobby. Es braucht vermehrt Führungsstärke. Wir müssen handeln und das Heft der Energiepolitik in die Hand nehmen, wie unsere Väter und Grossväter, die Wasserkraftwerke unter schwierigsten Bedingungen bauten. Ich bin kein Grüner, aber der ökologische Fussabdruck von uns Schweizern ist deutlich zu gross. Wir leben nicht so, wie es der Planet erfordert. Ein Paradebeispiel ist die ungebremste Fliegerei, die erwiesenermassen sehr schädlich fürs Klima ist», womit er den Schluss seiner brennenden Rede einleitete. Mit jeder Entscheidung, die wir treffen würden, entschieden wir uns für oder gegen etwas, und alles habe eine Wirkung: wo wir arbeiten, was wir einkaufen und womit wir unsere Freizeit verbringen.

Die Liebeserklärung zur Versöhnung

Einen versöhnlichen Abschluss fand Gemperle mit seiner Liebeserklärung an die Schweiz. Er lobte das politische System, das jedem einzelnen ein Mitspracherecht einräume. «Ich bin überzeugt, dass die Schweiz das beste Land der Welt ist. Wir sind auf einem Niveau, das es schwer macht, noch besser zu werden. Zudem wartet unsere Heimat mit unglaublichen Schönheiten auf: mit Bergen, Seen, Wäldern, gepflegten Ortschaften mit stattlichen Häusern, Äckern und Feldern, Obstgärten und Weinbergen, Burgen und Schlössern. Was wir haben, ist das Erbe unserer Vorfahren. Sie leisteten Grossartiges. Pioniergeist und der unbedingte Wille, das Beste zu schaffen, dafür müssen wir dankbar sein. Bewegen wir uns, packen an und setzen um, alle gemeinsam.»
Mit diesem Lob wich die Betroffenheit bei den Gästen; Lächeln und Festfreude kehrten zurück und der Redner wurde mit einem herzlichen Applaus verabschiedet. «Von Gemperle war nichts anderes zu erwarten», war ein viel gehörter Kommentar unter den Gästen. Mit der Eröffnung des Dessertbuffets und der Durchführung der angekündigten Schätzfrage fand der Abend zurück in die Bahnen einer gewohnt gemächlichen 1. Augustfeier, zu der das duo Aeplis Rohrenschmaus mit verschiedenen Einlagen die musikalische Begleitung geliefert hatte. Die einsetzenden Regenschauer liessen die Besucher kurzzeitig noch enger unter den nun als Regenschirme fungierenden Sonnenschutze zusammenrücken – ganz so, wie Josef Gemperle es in seiner Rede gewünscht hatte. Eine kleine Gruppe Kinder und Erwachsene trotzte dem Sommerregen und marschierte mit Fackeln ums Gelände. Eine Feier, die wahrlich viel zu bieten hatte.

MARIANNE BURGENER


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