Es geht bereits «ums Überleben»

  01.11.2022 Region

Viele Schweizer Schulen sind am Anschlag. Die Arbeitsbedingungen drohen nun die Personalkrise noch weiter zu verstärken.

BILDUNG Keine Logopädie für Lernschwache und acht verschiedene Personen für eine einzige Schulklasse. Eine «Infosperber»-Recherche zeigt: Viele Schweizer Schulen befinden sich im laufenden Schuljahr im Dauernotfall. Dies führt bereits jetzt zu unhaltbaren Zuständen – und droht das Problem zu verschärfen. Denn solche Arbeitsbedingungen sind für viele Lehrpersonen auf Dauer inakzeptabel. «Im Moment geht es wirklich ums Überleben», sagt Daniel Gebauer, Schulleiter im bernischen Lauperswil auf Anfrage. Alle Stellen für Klassenlehrpersonen an seiner Schule seien zwar besetzt. Er musste aber «zähneknirschend» auch Lehrpersonen ohne Diplom einstellen. Die Lektionen für Kinder mit Lernschwächen finden zwar statt, jedoch oftmals mit Lehrpersonen, die nicht über das entsprechende Diplom für Heilpädagogik verfügen. Mehr als die Hälfte des Logopädieunterrichts kann aber nicht stattfinden. Der Grund: Gebauer findet niemanden.

Die Kosten tragen Lehrpersonen und Kinder

Wie in Lauperswil dürfte es aktuell an vielen Schweizer Schulen aussehen. Viele müssen bereits auf Lehrpersonen ohne Ausbildung zurückgreifen. Im Thurgau sind beispielsweise 68 Personen ohne Lehrdiplom angestellt. Die Zahlen der Basler Regierung zeigen: 426 Lehrpersonen unterrichten im aktuellen Schuljahr ohne formell anerkanntes Lehrdiplom, Tendenz leicht steigend. Doch Zahlen dazu lieferten im Rahmen einer SRF-Umfrage zuletzt nur zehn Kantone. Und auch diesen Zahlen allein ist nicht zu trauen. Ein Beispiel: Der Kanton Graubünden gab SRF an, keine Lehrpersonen ohne Diplom angestellt zu haben. Doch die abtretende Präsidentin des Lehrpersonenverbands sagte kürzlich in einem Interview: «Lehrpersonen unterrichten auf einer anderen Stufe oder in einer anderen Funktion, als sie ausgebildet wurden. Es unterrichtet beispielsweise eine Primarlehrperson in der Oberstufe oder schulische Heilpädagogen, die keine Ausbildung dazu haben.»
Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) bezeichnete dies Ende August in der Sendung «SRF Eco Talk» als «versteckten Lehrermangel». Wichtig daran ist vor allem: Wenn Personen ohne Ausbildung unterrichten, zeigt sich dies potenziell nicht nur bei der Unterrichtsqualität. So froh die Schulen gegenwärtig auch sind um sie: Ihre Betreuung kostet Geld und bedeutet tendenziell mehr Arbeit.
Wenn es sich bei den Unausgebildeten um Studentinnen und Studenten Pädagogischer Hochschulen (PH) handelt, wird die Betreuung zwar durch ein vom Kanton bezahltes Mentorat übernommen. Der Leiter des Thurgauer Volksschulamts sagte dazu kürzlich aber auch: «Die Begleitung und Betreuung der Lehrpersonen ohne Abschluss durch Mentoren bedeuten einen höheren Zeit- und Personalaufwand.» Dies bestätigt auch Daniel Gebauer von der Schule Lauperswil, der aktuell vier Personen ohne abgeschlossene Ausbildung angestellt hat.

Acht verschiedene Personen für eine Klasse

Manche Schulen können den Unterricht ohnehin nur dank grossem zusätzlichem und unentgeltlichem Einsatz bereits angestellter Lehrpersonen gewährleisten. Ein besonders extremes Beispiel dafür ist die Schule Rüderswil im Emmental: Nachdem eine Klassenlehrperson sehr spät gekündigt hatte, konnte Schulleiterin Christina Berger die Stelle nicht mehr besetzen. NuN deckt eine Gruppe aus acht verschiedenen Personen die Lektionen ab – Deutsch unterrichten gar drei unterschiedliche Lehrkräfte. Und nicht alle von ihnen sind entsprechend ausgebildet.
Die Folge: Ein immenser Koordinations- und Kommunikationsaufwand. Die Eltern sollen laufend informiert sein, die unerfahrenen Kollegen brauchen Unterstützung bei einfachen Planungsarbeiten. Und laufend braucht es Absprachen im Team über Vorfälle und die Führung der Klasse. So bestreitet das Klassenteam nun das ganze Schuljahr. In diesem Rahmen wird Schulleiterin Berger auch zur Ausbildnerin zum Nulltarif. «Kürzlich machte ich mit einer Kollegin ohne Ausbildung eineinhalb Stunden Unterrichtsplanung. Für diese Arbeit wird sonst eine Praxislehrperson von der PH bezahlt.»
Noch hätten alle Lehrpersonen Freude am Beruf. Die Schule ertrage aber keine längeren Ausfälle mehr. «Mir würde es Angst machen, wenn ich für längere Zeit eine Stellvertretung suchen müsste. Kurzfristig geht es immer, da kann jemand einspringen. Ab einem halben Jahr bin ich mir nicht sicher, ob ich das besetzen kann.» Hinzu kommt, dass die Klassen an ihrer Schule bereits gross sind: 25er-, 26er-Klassen. An der Oberstufe besteht eine solche aus 28 Schülerinnen. Das schränkt den Spielraum bei Personalengpässen auch ein.
Was aktuell auffällt: Jammern wollen die Lehrpersonen trotz teilweise unhaltbarer Zustände nicht. In einem Interview mit der «NZZ», sagte der Präsident des Schulleiterverbandes kürzlich, an den Schulen sei es aktuell so ruhig, weil sie mit sich selbst beschäftigt seien. Für Schulleiterin Berger, die notgedrungen auch ein paar Lektionen übernimmt, ist die Situation kein Weltuntergang. Aber eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten. Sie ist zuversichtlich, dass sie fürs nächste Schuljahr ein neue Klassenlehrperson findet, weil sie die Stelle früher ausschreiben wird, und sieht es sportlich: «Ich mag die Flinte nicht ins Korn werfen. Dafür sind mir die Schüler und Lehrpersonen zu wichtig.» Zur eigenen Notlösung fürs laufende Schuljahr sagt sie aber auch klar: «Das kann man nicht jahrelang so machen, da blutet man alles aus.»

Notmassnahmen im Aargau

Ähnliches ist mittlerweile aus dem Kanton Aargau bekannt. Gemäss einem Artikel des «Tages-Anzeigers» führte der kantonale Verband der Lehrpersonen eine Umfrage an den über 400 Standorten der Volksschule durch und erhielt 300 Rückmeldungen. Sie bestätigen das Bild. Über ein Drittel der Schulen teilte mit, dass man nur durch Notmassnahmen durchs Schuljahr komme. Klassen und Fächer seien zusammengelegt worden. Der Geschäftsführer des Verbands, Daniel Hotz, sagte: «Notmassnahmen sind nie befriedigend, weil sie meistens auf dem Buckel des bestehenden Personals erfolgen.» So habe sich auch die gesundheitliche Situation im kantonalen Lehrkörper verschärft. Und dies nachdem bereits eine letztjährige Umfrage zur Gesundheit der Aargauer Lehrpersonen «besorgniserregende» Rückmeldungen gebracht habe (im «Infosperber» schilderte kürzlich eine Aargauer Lehrerin, wie sie wegen Burnouts aussteigen musste).

Klassenlehrpersonen brauchen Entlastung

Wie die Schulen die Personalnot mit Quereinsteigenden und unausgebildeten Personen meistern zeigt: Es fehlen nicht zuerst engagierte Menschen, welche im Lehrberuf arbeiten wollen. Es fehlen zuerst ausgebildete Klassenlehrpersonen, welche bereit sind, die Hauptverantwortung für ganze Klassen zu übernehmen. LCH-Präsidentin Dagmar Rösler sagte im «Eco Talk» auch: «Diese Personen wollen nicht mehr Lohn, sondern entlastung.» Dies deckt sich mit einem Bericht von 2016. Da heisst es: «Wer auf der Volksschulstufe eine Klassenlehrfunktion ausübt, hat gegenüber den Kolleginnen ohne diese Funktion weniger Zeit für Erholung, kann den Berufsauftrag innerhalb des Arbeitspensums weniger gut nach den eigenen Ansprüchen ausüben und sieht sich stärker unter Druck und überlastet.»
Deshalb rücken nun wieder die Klassengrössen in den Fokus. Unbestritten ist, dass grosse Klassen Lehrpersonen besonders stark beanspruchen. Der LCH nannte die Klassengrössen bereits 2016 einen «bedeutenden Belastungsfaktor für Lehrpersonen» und forderte in einem Positionspapier, dass die durchschnittliche Klassengrösse für die Volksschulen 19 Schüler nicht übersteigen dürfe. Für Franziska Schwab, Leiterin Pädagogik bei «Bildung Bern», vergrössern grosse Klassen die gegenwärtige Herausforderung zusätzlich. «Wir sind froh um die motivierten Leute ohne Ausbildung, sind auf sie angewiesen. Aber sie sollen sich nachqualifizieren können. Jemand, der gut ausgebildet ist, kann auch mal kurzfristig eine grosse Klasse managen.»

Lehrpersonen fordern kleinere Klassen

Wie das Beispiel Rüderswil zeigt, liegen einige Klassen bereits heute deutlich über dem geforderten Schnitt. Die gesetzlichen Vorgaben dazu variieren von Kanton zu Kanton. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) macht jährlich Umfragen zur maximalen Klassengrösse. Auf der Primarstufe beispielsweise liegt die Obergrenze im Kanton Bern bei 27 Schülerinnen. Im Kanton Zürich gibt es erst ab 29 Schülern zusätzliche Mittel für Halbklassen. Grössere Klassen kosten Kanton und Gemeinden weniger, wenn sich mit ihnen eine zusätzliche Klasse verhindern lässt. Dafür verursachen sie mehr Arbeit für die Klassenlehrpersonen.
Bezeichnend ist denn auch, dass die Berner Lehrpersonen in einer Mitgliederumfrage von «Bildung Bern» im März zu ihren bildungspolitischen Anliegen nicht zuerst höhere Löhne forderten. Sondern kleinere Klassen. Im erwähnten Faktenblatt zu den Klassengrössen, das die wissenschaftliche Forschung zum Thema zusammenfasst, heisst es denn auch ausgerechnet: «Gesamtwirtschaftlich betrachtet haben kleine Klassen langfristig positive Auswirkungen durch höhere Abschlüsse der Schüler und nachfolgend höhere Einkommen im Berufsleben. Eine Zunahme an höheren Berufsabschlüssen trägt zur reduktion des Fachkräftemangels bei.»

PASCAL SIGG, INFOSPERBER.CH


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