«Erinnerung ist eine Verpflichtung für die Gegenwart»
28.08.2025 AadorfDer Aadorfer Romuald Polachowski feierte kürzlich seinen 77. Geburtstag. Ein Leserbrief in der «Elgger/ Aadorfer-Zeitung» führte zu diesem Gespräch – denn der pensionierte Bildhauer hat viel zu erzählen: über Flucht, Internierung, verbotene Liebe und ein ...
Der Aadorfer Romuald Polachowski feierte kürzlich seinen 77. Geburtstag. Ein Leserbrief in der «Elgger/ Aadorfer-Zeitung» führte zu diesem Gespräch – denn der pensionierte Bildhauer hat viel zu erzählen: über Flucht, Internierung, verbotene Liebe und ein Leben für Verbindung und Begegnung.
Ihr Vater Pawel war polnischer Internierter und kam während des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz. Warum und wie hat sich das zugetragen?
Romuald Polachowski: Mein Vater war polnischer Soldat, der sich in Frankreich den Alliierten angeschlossen hatte. Doch nach der Einkesselung floh er – über Ungarn, die Tschechoslowakei und Österreich – in die Schweiz. Er trug manchmal russische Uniformen oder eine Maschinenpistole, um seine Identität zu verschleiern und unbemerkt zu entkommen.
War Ihr Vater unter den 6000 Polen, die zuerst in ein Internierungslager in Büren (Bern) kamen? Hat er erzählt, wie das damals war?
Insgesamt wurden damals etwa 12 000 Polen interniert; etwa 6 000 davon kamen nach Büren an der Aare. Mein Vater war dabei. Er sprach selten über den Alltag im Lager, meinte aber, er war zufrieden mit der Versorgung: ausreichend Schlaf, Essen und ein besserer Schutz, als er es sich erhofft hatte.
Offenbar kam es in Büren zu Spannungen zwischen den Schweizer Bewachern und den Internierten. Deshalb wurden sie verteilt, und so kam Ihr Vater nach Matzingen. Wo lebte er dort und was machte er?
Genau – Büren war überfüllt, daher wurden Internierte aufs ganze Land verteilt. Mein Vater lebte in Matzingen zunächst im Lagerumfeld und arbeitete als Holz- und Steinbildhauer. Er gab Kurse für Internierte und Zivilisten, schnitzte Spazierstöcke und fertigte kleine Kunstwerke an.
Es gab viele Verbote für die Internierten: weder Velo fahren noch Zugbenutzung waren erlaubt, und Kontakte mit Schweizerinnen waren tabu ...
Ja, die Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt. Man durfte nur mit schriftlicher Erlaubnis Zug fahren und musste das selbst bezahlen – was wenig Sinn machte, weil Geld sehr knapp war. Kontakte mit Schweizer Frauen waren verboten, obwohl viele Beziehungen trotzdem entstanden – was zu Spannungen und unehelichen Kindern führte. Auch mein Vater lernte meine Mutter während der Interierungszeit kennen.
Ihre Mutter – Agathe Schwager – stammte aus dem thurgauischen Lommis. Als die beiden heirateten, musste er die Schweiz verlassen – sie verlor ihre Staatsbürgerschaft. Die Familie übersiedelte nach Frankreich und dann Polen. Deshalb wurden Sie in Polen geboren?
Richtig: Die Heirat 1945 führte zum Verlust des Schweizer Bürgerrechts meiner Mutter. Deshalb wanderten sie nach Frankreich (Müllhausen) aus, wo meine Schwester geboren wurde. Doch mein Vater hatte Heimweh. Anfang 1948 kehrte die Familie nach Polen zurück, und dort wurde ich geboren – am 13. August 1948.
Warum und wann kam Ihre Familie wieder zurück in die Schweiz? Und wie gelangten Sie dann nach Aadorf?
1956 kehrte meine Mutter mit uns Kindern in die Schweiz zurück – sie erhielt ihren Pass wieder. Mein Vater folgte 1957 auf dramatischem Weg: er schlich über Österreich und den Rhein hinein, musste sich mehrfach als Schweizer ausgeben. Dann lebten wir zuerst in Wettingen, später in Matzingen/Aadorf. Mein Vater arbeitete bei der Firma Sulzer, die damals auch einen Standort in Matzingen hatten. Er war als Modellbauer tätig und dadurch konnten wir später ein Haus erwerben – ein echtes neues Kapitel für uns.
Ihr Vater war gelernter Bildhauer – wollten Sie deshalb auch Bildhauer werden?
Ich wollte ursprünglich Grafiker werden, wurde aber als Ausländer an der Schule abgelehnt. So entschied ich mich für eine Lehre als Holz- und Steinbildhauer, besuchte die Gewerbeschule in St. Gallen und arbeitete eng mit meinem Vater zusammen. Seine Kunst war mein Vorbild und Wegweiser.
Inwiefern haben Sie sich in Ihrer Kunst mit Ihrer polnischen Herkunft und den traumatischen Erfahrungen des Krieges auseinandergesetzt?
Ich male vor allem Landschaften und heilige Ikonen im ukrainisch-russischen Stil – ein Erbe meiner Herkunft. Der Krieg selbst ist meist indirektes Thema, aber durch Erzählungen meines Vaters wirkt er in meiner Kunst nach. Die Erinnerung, das Handwerk und die Symbolik polnischer Kunst tragen diese Geschichte weiter.
Sie waren oft im sogenannten Polenzimmer im Ortsmuseum Matzingen anzutreffen ...
Ja, das Polenzimmer im Ortsmuseum Matzingen war eines meiner Herzensprojekte. Seit 2023 ist das Museum jedoch geschlossen, da Platz für die «Thurgauer Geschichte» geschaffen werden musste. Teile der Sammlung wurden nach Rapperswil gebracht – sehr bedauerlich, aber wichtig ist: die Geschichte bleibt erhalten.
In Ihrem Leserbrief schrieben Sie, dass Sie als 9-Jähriger mit der Schulklasse das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau besucht haben. Wie war dieses Erlebnis für Sie?
Das war ein tief prägender Moment. Ich habe den Leserbrief geschrieben, um diese Erinnerung wach zu halten. Wir standen morgens zum Appell auf dem Schulhof, um das Konzentrationslager zu besuchen. Ich erinnere mich an die starren Blicke, die bedrückende Atmosphäre. Auch heute noch – zum Beispiel, wenn ich nach Polen reise – überkommt mich ein Schüttelfrost. Auschwitz als Begegnung mit dem Grauen – das prägt lebenslang.
Wenn Sie die heutige politische Situation in Europa betrachten – Rechtsruck, neuer Antisemitismus seit dem Nahost-Konflikt –, macht Ihnen das Angst?
Ja, das macht mir grosse Sorgen. Ich spüre eine gesellschaftliche Verrohung, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte – besonders im Umgang mit Minderheiten. Der Antisemitismus, der in ganz Europa wieder aufflammt, ist nicht nur ein politisches Problem, sondern ein menschliches Versagen. Es beginnt oft subtil: in der Sprache, in den sozialen Netzwerken, im Wegsehen. Aber wir wissen aus der Geschichte, wie schnell aus Worten Taten werden können.
Ich bin mit Geschichten aus dem Krieg aufgewachsen, habe als Kind Auschwitz gesehen – und dachte, solche Zeiten kämen nie wieder. Heute sehe ich, dass das nie selbstverständlich war. Es ist unsere Aufgabe, wachsam zu bleiben. Gerade weil ich selbst Teil einer Familiengeschichte bin, die von Flucht, Ausgrenzung und Hoffnung geprägt ist, glaube ich fest daran: Erinnerung ist nicht rückwärtsgewandt – sie ist eine Verpflichtung für die Gegenwart.
Deshalb engagiere ich mich auch heute noch, etwa in Aadorf, für Aufklärung, Begegnung und Kunstprojekte, die das Verbindende betonen. Wir dürfen nie vergessen, wohin Hass und Gleichgültigkeit führen können. Und wir müssen den Mut haben, uns dem entschieden entgegenzustellen – jeden Tag, aufs Neue.
SARAH STUTTE
Das Polenzimmer neu in Rapperswil
Ein Raum gegen das Vergessen
Bis 2023 bewahrte der Künstler Romuald Polachowski im Polenzimmer des Ortsmuseums Matzingen die Geschichte seines Vaters Pawel und jener rund 12’000 polnischen Soldaten auf, die im Zweiten Weltkrieg in der Schweiz interniert waren. Matzingen war einer von über 1200 Orten in der Schweiz, in denen Internierte untergebracht wurden – rund 250 Polen lebten hier in 18 Baracken. Offiziell waren Kontakte zur einheimischen Bevölkerung verboten, doch das Leben schrieb andere Geschichten: Polachowski selbst ist ein sogenanntes Polenkind – Sohn einer verbotenen Liebe.
Erinnerung in Stein und Holz
Romuald Polachowski hat über 20 Gedenktafeln und Denkmäler geschaffen – darunter in Belfort (Frankreich), Goumois, Teedingen und eben auch in Matzingen. Viele zeigen den polnischen Adler, das Symbol der Exil-Armee Armia Polska. Oft wurden diese Erinnerungsorte von ehemaligen Internierten selbst finanziert – auch das Polenzimmer entstand aus privatem Engagement.
Ein neues Zuhause in Rapperswil
Nach vielen Jahren wurde das Polenzimmer aufgelöst. Die Artefakte, Dokumente und Erinnerungsstücke von Romuald Polachowski sind nun Teil des Polenmuseums in Rapperswil. Dieses ist derzeit geschlossen, hat aber bald einen neuen Standort im Burghof am Schlossaufstieg – wo sich schon Bibliothek, Archiv und die Dauerausstellung des Museums befinden. 2026 schlägt die Neueröffnung dann ein weiteres Kapitel der polnisch-schweizerischen Erinnerungskultur auf.
Romuald Polachowskis Familiengeschichte ist auch Teil des Buches «Interniert – Polnisch-schweizerische Familiengeschichten» (Chronos Verlag, 2020). Das Buch enthält 21 bewegende Geschichten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in denen sich polnische Internierte und Schweizerinnen – trotz Eheverbot – begegneten. Eine der Geschichten erzählt vom Schicksal seiner Eltern, Paweł Polachowski und Agathe Schwager, und damit auch von Romuald selbst.