«Erinnern und Vergessen» auf dem Geschichtenpfad
09.10.2025 ElggAm 21. September wurden auf dem Geschichtenpfad zum elften Mal Kurzgeschichten an verschiedenen Lokalitäten in Elgg vorgetragen. Wie in den vergangenen Jahren veröffentlicht die «Elgger/Aadorfer Zeitung» die fünf Geschichten von zwei Autorinnen und zwei Autoren. Wer jetzt ...
Am 21. September wurden auf dem Geschichtenpfad zum elften Mal Kurzgeschichten an verschiedenen Lokalitäten in Elgg vorgetragen. Wie in den vergangenen Jahren veröffentlicht die «Elgger/Aadorfer Zeitung» die fünf Geschichten von zwei Autorinnen und zwei Autoren. Wer jetzt richtig gezählt hat und stutzig wird – bei der letzten Geschichte überraschte die Urheberschaft. Mit der Kurzgeschichte von Margrit Wipf starten wir heute diese Serie.
Gegen das Vergessen
VON MARGRIT WIPF
An einem frühen, frostigen Februarmorgen steigen zwei gutgelaunte Frauen in Zürich in den Zug, um nach Deutschland zu reisen. Es ist kalt und nass und sie sind froh, an die Wärme gehen zu können. Schon lange hatten sie die Reise geplant. Ihr Ziel ist Dresden und Hamburg. «Warum nicht einmal im Winter eine Stadt besuchen? Das kann doch auch seinen Reiz haben», so dachten sie bei der Planung. Schnell haben sie ihre Plätze gefunden, legen ihre dicken Wintermäntel auf die Gepäckablage und machen sich’s in ihren Sitzen bequem. Seit über 50 Jahren sind Sandra und Regina befreundet. Reisegewandt, wie sie sind, planen sie zusammen immer wieder mal einen Besuch in eine europäische Stadt.
Wenn man inmitten von Dresden an den prachtvollen Barockbauten emporschaut, kann man sich heute kaum vorstellen, dass Ende des Zweiten Weltkrieges die Stadt in Schutt und Asche lag. Die kulturbeflissenen Frauen haben bei ihrem ersten Rundgang durch die Innenstadt vieles gesehen, welches sie in den folgenden Ferientagen näher anschauen wollen. Jetzt stehen sie bewundernd vor der Frauenkirche, dem prachtvollen Zeugnis der barocken Architektur. Nach der Zerstörung 1945 blieb die Frauenkirche eine Ruine. Sie wurde als Mahnmal gegen den Krieg belassen und erst von 1993 bis 2005 wieder aufgebaut. «Komm, wir gehen rein», stupste Sandra ihre Freundin an. Aber sie kommen nicht an den vielen mannshohen Plakaten vor den Kirchentoren vorbei. Gesichter aus einer vergangenen Zeit lassen sie erschauern. Luigi Toscano, der Künstler der Installation, zeigt 80 eindringliche Portraits von Holocaust-Überlebenden und gibt diesen Zeitzeugen damit eine Stimme. Sie erinnern an das unfassbare Leid der Naziverfolgung. 80 Jahre ist es her, seit der Befreiung von Auschwitz und dem Ende des Zweiten Weltkrieges. «Meine Ausstellung soll ein kraftvolles Zeichen gegen das Vergessen setzen», sagt Toscano.
In Gedanken versunken, verlassen Sandra und Regina einen Ort, der für Frieden und Versöhnung steht. Leise beginnt es zu schneien. Die Strassenlaternen leuchten in der Dämmerung. Eine wundersame Stimmung. Das schöne Kaffeehaus um die Ecke lädt zu Kaffee und Kuchen ein. Die Zahl 80 hat auch für die beiden Frauen eine grosse Bedeutung. Sie feiern nämlich ihren runden Geburtstag und freuen sich, dass sie noch mit Lust und Energie auf Reisen gehen können.
Die nächsten Tage sind ganz den Sehenswürdigkeiten von Dresden gewidmet. Nach der happigen Kost von gestern, soll es heute ein fröhlicher Tag werden. Der Zwinger und das grüne Gewölbe, das blaue Wunder, die Brühlsche Terrasse, die Semperoper und mehr laden ein zur Besichtigung. Müde von den vielen Eindrücken des Tages, aber voller Erwartung, machen sich Regina und Sandra am Abend auf den Weg zur Semperoper. Mozarts «Zauberflöte» ist angesagt. Die Vorfreude der beiden ist gross.
Nun sitzen Regina und Sandra im Zug Richtung Hamburg. Sie sind froh, die Reisezeit nutzen zu können, um das Erlebte, Gehörte und Gesehene etwas setzen zu lassen. Mozarts Musikgenuss von gestern noch im Ohr der beiden, vermischt sich mit dem dumpfen Geräusch des Zuglärms. Regina und Sandra kennen Hamburg von früheren Besuchen. Damals gab es sie noch nicht, die Elbphilharmonie. Dieses architektonische Wunderwerk und die Musik bewogen sie, nochmals hierherzukommen. Den Kopf auslüften entlang der Elbe tut ihnen gut. Zwar ist die Stadt in dichten Nebel gehüllt und dazu bläst ein eisiger Wind. Das hält die beiden Frauen nicht ab, die «Elphi», wie die Hamburger die Harmonie liebevoll nennen, bei Tageslicht zu sehen. Oben angekommen erleben sie ein doppeltes Schauspiel, nämlich, wie der Nebel sich langsam verflüchtigt und sich ihnen die Stadt aus der Vogelschau von der schönsten Seite präsentiert.
Heute Abend ist einmal mehr Musik angesagt. Mit der Uraufführung der «Cantata in Tempore belli», komponiert von Jörg Widmann, wissen die zwei Frauen nicht so genau, was auf sie zukommt. Hier, in diesem wunderbaren Konzertraum der Elbphilharmonie sitzen zu können, um Musik zu hören, erfüllt sie mit Freude und Dankbarkeit. Was sie in Dresden vor der Frauenkirche gesehen haben, liegt 80 Jahre zurück. «Nie wieder Krieg!», hallte es über die zerstörte Welt. Und jetzt und heute? Mit diesem Musikstück werden die beiden Frauen erneut konfrontiert, diesmal nicht mit der Vergangenheit, sondern mit der Gegenwart. Heiss und kalt läuft es ihnen den Rücken hinunter beim Hören der Worte des Sprechers von Wolfgang Borchert: «Sag nein, du Mann an der Maschine, wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen, sondern Stahlhelme und Maschinengewehre. Du, Mutter in Russland, in Hamburg, Mütter in der Welt, ihr sollt Kinder gebären, neue Soldaten für neue Schlachten. Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins: sagt nein». Im Wechsel, der Sprecher und der Chor rufen und singen, sagt nein! Sagt nein. Die Altistin singt mit ihrer weichen, traurigen Stimme den Part der Mutter, die ihr ganzes Leid über ihr totes Kind beklagt. Das macht betroffen. Das Lamento in der Kantate gibt Raum für untröstliche Trauer, Wut und Zorn. «Der Mensch hat sich bei allem Fortschritt überhaupt nicht weiterentwickelt, er verfällt immer wieder in die gleichen Muster.» Jahrtausendalte Texte aus der Bibel zeigen es», schreibt der Komponist. Dennoch, selbst die geschundene Frau erhebt erneut ihre Stimme, beteiligt sich an den Seligpreisungen, gemeinsam mit anderen in der Hoffnung, dass das Leben im Guten weitergehen könnte. «Vielleicht ist dies inkonsequent -doch genau so ist das Leben», meint Jörg Widmann. Friede auf Erden, «in Terra pax hominibus», Friede auf Erden den Menschen. Dem Komponisten geht es um den irdischen Frieden; und diesen zu schaffen, ist Sache des Menschen. Der finale Friedensruf Pax, Friede, tönt anfänglich leise, fast wie Geflüster, zögernd, dann kommen immer mehr Stimmen dazu, bis der volle Klang den ganzen Raum erfüllt und die Zuhörerschaft miteinhüllt. Eine musikalische Friedensbotschaft, die niemand im Saal unberührt lässt. Die lange Stille vor dem Applaus zeigt dies deutlich. Sandra und Regina sind ergriffen und mit ihnen die Menschen im Konzertsaal. Aber dann lassen sie sich mitreissen vom tosenden Applaus. Die Standing Ovation gilt dem Komponisten, dem Dirigenten, den Musikerinnen und Musikern, dem Chor aus der Ukraine, der Altistin und dem Sprecher. Der Komponist Jörg Widmann sagt, ich zitiere: «Auch wenn es vollkommen klar ist, dass wir Künstler keinen einzigen Krieg beenden können. Doch unsere Stimme erheben, das müssen wir unbedingt.»
Tief bewegt von der eindringlichen Musik und der Friedensbotschaft der Kantate machen sich Regina und Sandra auf den Heimweg ins nahe Hotel. Die Nacht ist neblig und kalt. Da ruft eher ein heisser Tee und dann unter die warme Decke. Das Cüpli versparen sie sich auf ein andermal. Nach diesem Musikerlebnis über Krieg und Frieden kommen den Frauen unweigerlich aktuelle Bilder von heute hoch, von geschundenen Menschen, Vertriebenen, Heimatlosen, jungen Soldaten, alten leidenden Menschen, hungernden und sterbenden Kindern. Ein Ohnmachtsgefühl lässt sie nicht los. So wird es noch vielen der Konzertbesucherinnen und Konzertbesucher ergangen sein. Regina denkt wieder an die Mahnung des Fotografen Toscano an uns alle: «Wenn wir die Vergangenheit vergessen, sind wir verdammt, sie zu wiederholen.» Sandra stellt bestimmt ihre Teetasse ab, schaut zu Regina und meint: «Sich erinnern, Zeichen setzen gegen das Vergessen, das können wir tun».