Elgg im Sonderbundskrieg
09.02.2023 ElggAus bekannten Gründen ist die allgemeine Gemütslage derzeit eher bedrückt. Trotzdem herrscht «courant normal». Das heisst: Der Alltag verläuft wie bisher, die Versorgung funktioniert kontinuierlich und die Sicherheit scheint im Inland ungefährdet – und das ...
Aus bekannten Gründen ist die allgemeine Gemütslage derzeit eher bedrückt. Trotzdem herrscht «courant normal». Das heisst: Der Alltag verläuft wie bisher, die Versorgung funktioniert kontinuierlich und die Sicherheit scheint im Inland ungefährdet – und das Ausland weit entfernt. Die Balkankriege mögen zeitweise aufflackern und lodern, die «eigentlichen Kriege», der Zweite- oder gar der Erste Weltkrieg, jedoch werden den verstorbenen Generationen und einer für nie mehr wiederholbar gehaltenen Geschichte zugeordnet.
Als letzter ernsthafter Konflikt in der Schweiz gilt der Sonderbundskrieg vor gut 175 Jahren, ein Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen. In Kürze ausgetragen, waren schliesslich weniger als 100 Tote (jeder ist einer zu viel), eine unbekannte Zahl von Verletzten und Sachschäden zu beklagen. Das politische Ergebnis des militärischen Sieges jedoch: anstelle des Staatenbundes, ein moderner Bundesstaat mit -verfassung von 1848 und ein ausgleichendes parlamentarisches System von National- und Ständerat. Die Stimmberechtigten in Elgg votierten eindeutig für die neue Bundesverfassung. Höhepunkt und Abschluss eines Zeitabschnittes der sogenannten Regeneration.
Unruhige Jahre zuvor
Auch diese Jahre der Regeneration waren voller Unruhe gewesen. Das Land spaltete sich bereits politisch in konservierende und fortschreitende Lager. Elgg fieberte für letzteres. Die Gemeindeversammlung beschliesst, an der Protestversammlung vom 26. Januar 1845 nach Zürich-Unterstrass teilzunehmen und die Kosten der (Pferde-) Transporte auf Leiterwagen mit vier bis fünf Louis d’Or zu unterstützen. Es war winterlich kalt, als sich eine Gruppe Entschlossener mit Fuhrwerken auf den Weg machte. Man zählte etwa 20’000 Mann aus dem Kanton, die zu Fuss und auf Wagen der grossen Wiese in Unterstrass entgegenstrebten. Teilweise mit Fahnen und Musik begleitet, wollten die Teilnehmer die liberale, antijesuitische (nicht antikatholische!) Bewegung unterstützen. Das Tagesmotto lautete: «Jesuiten zum Land hinaus, sonst kehrt kein Frieden in unser Haus».
Auf der Tribüne über der imposanten Volksversammlung zeigten sich die wichtigsten Köpfe der Bewegung: Heinrich Weiss (1789-1848), Zürich und Winterthur, Politiker, Unternehmer, Redaktor, Oberst im Generalstab; Dr. Jonas Furrer (1805-1861), Winterthur, Jurist, Kantonsrat, Regierungsrat, Präsident der Tagsatzung, im Wahlkreis Elgg später mehrmals in den Zürcher Kantonsrat gewählt; Dr.med. Robert Steiger (1801-1862), Stadtpolitiker, Anführer der Freisinnigen in Luzern. Der zum Tode Verurteilte war nach Winterthur geflüchtet. Er wird am Mittwochabend den 19. Juli 1845 im «Ochsen» Elgg geehrt und in einem grossen Kreis von Anhängern stürmisch gefeiert. Unter den vielen Versammlungsteilnehmern befindet sich auch der kleingewachsene Gottfried Keller (1819-1890). Die Nachwelt beschenkt er in jenen Tagen mit einem seiner frühesten Gedichte, dem sechsstrophigen «Lied zur Volksversammlung von Zürich-Unterstrass», wovon wir uns an die drei gemässigtsten halten:
HERAUS NUN INS FREIE! / STIMM AN DEN FRÜH-GESANG! DER TAG BRICHT DIE WOLKEN / WIR SÄUMEN FAST ZU LANG. DIE HERREN NOCH DREHN / UND LEIERN UND FORT: STEH AUF, O VOLK, UND TAGE / UND DEIN WORT!
STEH AUF, VOLK, UND KLAGE / DIE LANDSVERRÄTER AN! STEH AUF, VOLK , UND FRAGE: «WER IS UNSER MANN?» JA, FRAG LAUT UND FEST: «IHR HERREN WOLLT IHR TUN?» WIR WOLLEN GRÜNDLICH WISSEN / UND NIMMER RUHN!
«WO SIND NUN DIE ZÜRCHER?» / SO FRAGT DIE GANZE SCHWEIZ. SIE HABEN WOHL VERGESSEN / IM ROTEN FELD DAS KREUZ? «NEIN, NEIN UND ABER NEIN! / WIR ZÜRCHER AUCH SIND DA! GRÜSS DEINE TREUEN SÖHNE / HELVETIA.»
Die Lokalpresse in den Kinderschuhen
Gerne wüssten wir, wie die Versammlungsteilnehmer aus Elgg wieder heimgekehrt waren. Ob sie zusammengeblieben, in Grüppchen oder gar (wie die echten Liberalen) einzeln gefahren und gewandert kamen? Ob sie zufrieden oder mit Vorbehalten den Rückweg angetreten hatten? Ob sie betrübt oder überschwänglich ihr zukünftiges, geliebtes Elgg vor Augen hielten? Ob sie sich – horribile dictu – ausnahmsweise mehr oder weniger angeheitert bewegten? Ob sie nach der andauernden Versammlung in der grimmigen Januarkälte unterwegs sich aufwärmen konnten? Gewiss bot der Heimweg Sprachstoff in Fülle. Und der lange Weg bot alle Gelegenheiten. Leider wissen wir nichts Näheres über die Rückkehr der nach Unterstrass Ausgezogenen.
Auch die mediale Berichterstattung des Auszugs und der Heimkehr blieb auf der Strecke. Denn erst zwei Jahre zuvor hatte ein gewisser J.J. Keller, Druck und Verlag, eine dorfeigene Zeitung erweckt: das «Elgger Wochenblatt», ein vierseitiges Blatt, geöffnet einem blossen A4-Format ähnlich, beidseitig bedruckt. Es flatterte bald als schmalstes Papierprodukt aus dem Hause Alexander Büchis (1829-1925) am Torweiher in die Gassen. Wir kennen nur eine einzige Reaktion im «Elgger Wochenblatt» auf den Tag von Unterstrass. Es möchte doch der politische Schwung von Unterstrass anhalten. Es möchte doch weiter diskutiert werden über die strittigen Fragen der Gegenwart. Man möchte sich doch regelmässig treffen, in jenem oder andern örtlichen Wirtshause. Denn ein menschliches Gegenüber zum Gespräch sei doch so viel besser als im Wirtshaus sitzen und an die leeren Wände schauen.
Der Ernstfall
Im Jahre 1845 schliessen die Urkantone, Luzern, Zug, Freiburg und das Wallis einen Sonderbund, der die weitere Existenz der Eidgenossenschaft ernsthaft gefährdet. Im Sommer 1847 beschliesst die eidgenössische Tagsatzung, den Separatbund der sieben Orte für illegal und ihn mit Waffengewalt aufzulösen. Die Tagsatzungstruppen unter dem Kommando des Generals Henri Dufour zwingen zuerst Freiburg zur Kapitulation und gehen dann konzentrisch gegen die sonderbündische Hauptstadt Luzern vor. Die Sonderbundstruppen unter General von Salis ihrerseits besetzen das Freiamt und obere Tessin. Dufours Truppen erobern darauf Zug, verdrängen die Sonderbundstruppen aus dem Freiamt und schlagen sie bei Gisikon, Meierskappel und Schüpfheim. Nach einem knappen Monat war der Krieg beendet.
Der bewaffnete Kampf um die Auflösung des Sonderbundes wird zur grossen nationalen Herausforderung. Sie betrifft den Bund der Eidgenossen-Kantone, die Gemeinden, Familien und die Einzelnen. Auch für Elgg bricht die Zeit der Bewährung an. Nach vielen Diskussionen, Debatten und Versammlungen kommt der Ernstfall. Die Wehrfähigen des Fleckens werden zum Aktivdienst aufgeboten. Es sind 50 Mann mit den folgenden Namen:
• DRAGONER: Jakob Stadelmann, Sattler; Martin Mantel, Schmied; Jakob Büchi, Untermüller; Heinrich Vogler.
• INFANTERIE, ERSTER AUSZUG (BATAILLON GINSBERG): Jakob Mantel, Zigarrenfabrikant, Fourier; U. Büchi von Seelmatten, Fourier; Jakob Stadelmann, Nagelschmied, Wachtmeister; Jb. Meier, Holzhacker, Wachtmeister; Andreas Stadelmann; Heinrich Mantel, Wagner; Jakob Frei, Grienwerfer; Heinrich Frei, Grienwerfer; Jakob Meyer, Zimmermann, Sappeur; Jakob Meier, Schneider; Alexander Müller, Maurer; J. Hegnauer, Metzger.
• ZWEITER AUSZUG (BATAILLON FÄSI): Ulrich Nüssli, Wachtmeister von Dickbuch; Jakob Müller, Maurer, Tambourkorporal; Etzensperger, Sennhof-Elgg; Konrad Gisler, Waldarbeiter von Flaach; Jakob Schönenberger von Fischenthal; Jakob Ott, Landwirt; Georg Stadelmann, Schneider; Konrad Stahel, Zimmermann, Sappeur; Heinrich Peter, Gerber; Jakob Hintermeister, Bäcker; Kaspar Huber, Hutmacher; Martin Spiller; Jakob Frei, Ziegler; Johann Frei, Zimmermann; Jakob Büchi, Wegknecht.
• ERSTE LANDWEHR (BATAILLON HAAB): Ferdinand Spiller, Färber, Oberleutnant; H. Müller, Zimmermann, Tambourkorporal; Heinrich Spiller, Gerber; Paulus Spiller, Hafner; Ulrich Frei, Bauer; Eduard Spiller, Schmied; Hrch. Hegnauer, Schmied; Jakob Schöchli, Seiler; Heinrich Mantel.
• ZWEITE LANDWEHR (BATAILLON HUGGENBERG): J. Kappeler, Bauer; Jakob Egg, Knecht von Dickbuch; Emanuel Zwingli; Konrad Müller, Küfer, Elgg; Jakob Büchi, Landwirt, Burghof Elgg; Georg Huber, Schlossbauer.
• SCHARFSCHÜTZEN: Jakob Büchi, Schulverwalter; Rudolf Mantel, Zimmermann; Jakob Stadelmann, Sattler.
• TRAINSOLDAT: Hess, Landwirt, von Spitzwies.
Die Heimkehr
Bis in die Gegenwart ist der Name des Generals der siegreichen eidgenössischen Truppen bekannt geblieben: Henri Dufour. Sein neuester Biograf Joseph Jung (hat sich bereits um Alfred Escher verdient gemacht) zeichnet sein Leben und Wirken: «Einigkeit, Freiheit, Menschlichkeit. Guillaume Henri Dufour als General, Ingenieur, Kartograf und Politiker.» Was ist die Quintessenz, das Geheimnis dieses Lebens im Dienste des Landes? Jungs Antwort: «Dufours Geheimnis bestand darin, dass er das Geschehen nicht auf Zerstörung und Vernichtung ausrichtete, sondern darauf, physische und emotionale Verletzungen möglichst gering zu halten und den Krieg auf schnellste Weise zu beenden.» Dies habe den neuen Bundesstaat schliesslich auch für die Verlierer zugänglich gemacht. Ausserdem sei eine möglicherweise unabsehbare Katastrophe abgewendet worden: die militärischen Interventionen Österreichs, Frankreichs und Preussens.
Alle 50 Wehrmänner aus Elgg kehren schliesslich vom nicht ungefährlichen Kriegsdienst unverletzt und schadlos in ihre heimatlichen Gefilde zurück. Auf Ortsrechnung werden die Soldaten des ersten und zweiten Auszuges am 9. Dezember 1847 mit Extrafuhrwerk in Zürich abgeholt. Die Gemeindevorsteherschaft beschliesst, den Zurückkehrenden auf dem Rathause einen Trunk aus dem Gemeindekeller und jedem Soldaten eine tägliche Soldzulage von einem Batzen aus dem Gemeindegut zu spendieren. Aber man denkt nicht nur an die Heimkehrenden, denn manche Familie zu Hause war durch die Abwesenheit ihres Vaters oder Sohnes in Not geraten.
Die heutige Militärversicherung gilt zwar als erste Sozialversicherung in der Schweiz – für Angehörige der Armee. Sie dürfte im Sonderbundskrieg noch kaum oder nur rudimentär wirksam gewesen sein. Auch nicht als entsprechendes Auffangnetz für die betroffenen Angehörigen zu Hause. Ihre Unterstützung im Notfall gehörte nach damaliger Ansicht allgemein, in erster Linie zu den Pflichten der Nächsten. Mit Geldsammlungen appellierte man zusätzlich an die freiwillige öffentliche Solidarität.
MARKUS SCHÄR