Eine Insel im Alltag
13.11.2025 Hofstetten, RegionEin milder Herbstnachmittag in Elsau. Im Haus der Familie Kumli sitzt Leonie beim Zvieri, als es an der Tür klingelt. Pflegefachfrau Franziska Gut von der Stiftung Kinderspitex Joël tritt ein und begrüsst Leonie mit einem warmen Lächeln. Das Kind strahlt – ein Moment ...
Ein milder Herbstnachmittag in Elsau. Im Haus der Familie Kumli sitzt Leonie beim Zvieri, als es an der Tür klingelt. Pflegefachfrau Franziska Gut von der Stiftung Kinderspitex Joël tritt ein und begrüsst Leonie mit einem warmen Lächeln. Das Kind strahlt – ein Moment voller Nähe und Vertrauen. Die «Elgger/Aadorfer Zeitung» durfte die Familie während der Pflegezeit begleiten – ein emotionaler Besuch, der tief berührt.
Stefanie und Marco Kumli aus Elsau leben mit ihren beiden Töchtern Leonie (6 Jahre) und Laura (11 Jahre) in einem Alltag, der von Liebe, Geduld und Dauerpräsenz geprägt ist. Was nach aussen wie ein normales Familienleben aussieht, ist in Wirklichkeit ein 24/7-Job, der die Familie seit Jahren begleitet.
Leonie kam gesund zur Welt. Doch mit zehn Monaten traten die ersten epileptischen Anfälle auf – ein Moment, der alles veränderte. «Die Anfälle wurden zunächst nicht sofort erkannt», erzählt Stefanie. «Mit elf Monaten wurden weitere Tests gemacht, aber erst mit drei Jahren stand die Diagnose fest: ein seltener Gendefekt (AP-4 Mangelsyndrom).» Bis dahin war es ein langer Weg mit Bluttests, Gentests und endlosen Prozeduren.
«Es war ein emotionales Auf und Ab zwischen Hoffnung und Angst», erinnert sich Stefanie Kumli. «Am Anfang sprach man von einer Entwicklungsstörung. Dann hiess es plötzlich, sie wird nie selbstständig werden. Jeder epileptische Anfall, jeder Aufenthalt auf der Intensivstation – das geht tief rein. Besonders belastend war die Corona-Zeit. Ich war während der Corona-Massnahmen oft allein im Spital. Das Kantonsspital Winterthur (KSW) hat uns jedoch das Leben gerettet. Wir wurden dort sehr unterstützt; erst nach dem Spitalaufenthalt waren wir auf uns allein gestellt. In akuten Notsituationen hat das KSW Leonie mehrfach wochenweise aufgenommen, weil wir nicht mehr konnten. Vor der Unterstützung durch die Joël-Kinderspitex hatten wir keine andere Spitex und somit auch keine Entlastung. Im Sommer 2021 kam dann endlich die Joël Kinderspitex zu uns. Eine Freundin von mir, die im KSW arbeitete, hatte mir davon erzählt. Heute bin ich so froh, dass sie kommen. Sie sind für uns ein Anker», erzählt sie.
Leben in ständiger Alarmbereitschaft
Leonies Epilepsie bestimmt den Alltag der Familie rund um die Uhr. «In der Nacht wird sie mit einer Kamera überwacht, weil jederzeit ein Anfall kommen kann», erklärt Stefanie. «Überall im Haus haben wir Notfallspritzen griffbereit. Wenn Leonie einen Anfall hat, kommen wir nicht mit Medikamenten über die Anfälle – dann brauchen wir ein Spital.»
Das bedeutet auch: keine spontanen Familienausflüge, keine unbeschwerten Ferien. «Wir sind junge Eltern und wären gerne mit den Kindern gereist. Aber das Weiteste, was wir geschafft haben, war Deutschland oder das Tessin. Überall müssen wir zuerst klären: Wo ist das nächste Kinderspital? Das schränkt uns massiv ein», sagt Stefanie Kumli.
Auch die grosse Schwester Laura leidet unter der Situation. «Laura macht das gut, aber sie steckt viel ein. Der Alltag dreht sich immer um Leonie. Wir versuchen, uns bewusst Zeit für Laura zu nehmen, aber das ist nicht immer einfach», sagt die Mutter der beiden.
Eine wichtige Stütze: Grossvater Hansueli
Neben der Stiftung Joël Kinderspitex gibt es noch eine weitere unverzichtbare Stütze für die Familie: Grossvater Hansueli Sommer (Leonies «Ätti»), 76 Jahre alt, der gleich nebenan wohnt. «Er ist der Erste, den Leonie am Morgen ruft», erzählt Stefanie lächelnd. «Die beiden sind ein Herz und eine Seele. Ohne ihn wäre vieles nicht möglich», betont Stefanie.
Einmal pro Woche, dienstags, kommt Franziska Gut, diplomierte Pflegefachfrau, für jeweils drei Stunden zur Familie. Sie wechselt sich mit ihrer Arbeitskollegin ab, die am Donnerstag die Pflege von Leonie übernimmt.
Die Pflegefachfrau badet Leonie – eine besonders anstrengende Aufgabe – übernimmt medizinische Pflege und schenkt der Familie vor allem eines: Zeit zum Durchatmen.
Die Mutter ergänzt: «Wenn Franziska und ihre Arbeitskollegin da sind, kann ich kochen, einkaufen, mich um Laura kümmern, ihr bei den Aufgaben helfen – oder einfach mal zum Coiffeur oder zum Nägel machen, Diese Zeit ist Gold wert. Die Kinderspitex ist für uns eine Insel, eine Oase im Alltag.
Leonie selbst geht in die Michaelschule und besucht sie gerne. Die Tage sind für sie anstrengend, aber sie macht es gut.»
Was fehlt: Unterstützung von Anfang an
Auf die Frage, was sie sich von Fachpersonen, Gesellschaft und Politik wünsche, wird Stefanies Kumlis Stimme eindringlich: «Als alles begann, gab es keine Stelle, die uns an die Hand nahm. Wir bekamen viele Zettel mit Adressen in die Hand gedrückt – aber niemand, sagte: Wir helfen Ihnen jetzt. Wir mussten alles selbst erledigen, uns durch den Dschungel kämpfen. Ich wünsche mir, dass Familien schneller und unkomplizierter Unterstützung bekommen. Dass man sie nicht allein lässt.»
Heute selbst aktiv für andere Familien
Diese Erfahrung hat Stefanie Kumli geprägt. Heute engagiert sie sich selbst in der Frühförderung Elsau. «Ich will etwas zurückgeben und etwas aufbauen für Familien mit beeinträchtigten Kindern. Die Gemeinde unterstützt das. Ich weiss, wie verloren man sich fühlt, wenn man keine Hilfe bekommt. Jetzt kann ich anderen Familien Mut machen und zeigen: Ihr seid nicht allein.»
Trotz aller Belastungen hat die Mutter von Leonie auch positive Erfahrungen gemacht: «Ich habe von der Gesellschaft keine Ablehnung erlebt. Die Menschen zeigen Interesse, sind offen. Dennoch gibt es Hürden im Alltag: «Man überlegt sich manchmal schon, ob man an einen Anlass gehen soll – mit dem Reha-Wagen, all den Hilfsmitteln. Da wäre mehr Selbstverständlichkeit schön. Dass es einfach normal ist, dass wir dabei sind.»
Pflege mit Herz – Franziska Gut über ihre Arbeit
Die Hofstetterin Franziska Gut, diplomierte Pflegefachfrau, arbeitet seit zwei Jahren bei der Joël Kinderspitex. Zuvor war sie in der Chirurgie tätig – eine Erfahrung, die ihr heute bei medizinischen Aufgaben zugutekommt.
«Die Stiftung Joël Kinderspitex ermöglicht mir eine grosse Flexibilität», erzählt Franziska Gut. «Ich kann Anfragen annehmen oder ablehnen. An den Wochenenden habe ich gerne frei, um mich um meine eigene Familie zu kümmern. Wenn ich Zeit habe, melde ich mich bei meiner Vorgesetzten Silvia Hofmann, die dann die Pflegeplanungen erstellt.» Viermal im Jahr finden in Schaffhausen die Entlastungswochenenden in der «WG Kunterbunt» statt. Ziel dieser Wochenenden ist es, Familien zu entlasten und ihnen eine Auszeit zu ermöglichen. Eltern, die noch weitere Kinder haben, können sich in dieser Zeit intensiver um sie kümmern oder als Ehepaar wieder gemeinsame Stunden verbringen. «Ich übernehme an diesen Wochenenden jeweils einen Dienst und unterstütze das Team vor Ort. In Notfallsituationen wird bei Bedarf in Absprache mit der IV der Einsatzplan angepasst, damit zusätzliche Unterstützung gewährleistet ist. So kann man flexibel reagieren, beratend tätig sein und wertvolle Erfahrungen einbringen», ergänzt die Pflegefachfrau.
Jeder Einsatz ist anders
Die Arbeit ist vielseitig: Franziska Gut betreut auch Mädchen mit Sonden, liest sich vorab in die Pflegeplanungen ein und baut Schritt für Schritt eine Verbindung zu den Kindern auf. «Man entwickelt einen Ablauf, aber es ist nie das Gleiche. Jeder Einsatz ist anders, eine neue Herausforderung. Leonie hat viel Kraft und ist manchmal auch eigensinnig, aber immer herzlich. Wenn sie nicht baden will, muss man sie einfach ablenken – dann klappt’s plötzlich», schmunzelt sie.
Was die Pflegefachfrau an der Arbeit besonders schätzt, ist die Nähe und Eigenverantwortung: «Ich darf hier Beziehungen aufbauen, nicht nur pflegen. Diese Zeit mit Leonie ist mir wichtig – aber vor allem, dass ihre Mutter endlich für sich etwas machen kann. Sie gibt mir die Verantwortung und hat Vertrauen in mich. Das ist ein Geschenk.»
Stefanie Kumli nickt: «Von Anfang an haben Franziska und Leonie gut zusammengearbeitet. Franziska macht das sehr gut – ich kann endlich loslassen.»
Herausforderungen und Notfälle
Die Verantwortung, die Franziska Gut trägt, ist gross. «Wir müssen in Notfällen sofort handeln können. Reanimationskurse gehören dazu, und wir haben immer alles Notwendige dabei», erklärt sie. Man ist sehr selbstständig in dieser Arbeit – und trägt die volle Verantwortung für das Kind. Erst kürzlich hatte sie eine kritische Situation mit einem anderen Mädchen. Ich konnte die Situation stabilisieren, sodass der Einsatz der Ambulanz nicht erforderlich war. Solche Momente zeigen, wie wertvoll unsere Ausbildung ist. Sobald Kinder von der IV unterstützt werden, ist eine Diplompflege vorgeschrieben – eine Anforderung, die die hohe Fachlichkeit der Stiftung unterstreicht.»
Dankbarkeit auf beiden Seiten
Trotz aller Herausforderungen überwiegt für Franziska Gut das Positive: «Die Dankbarkeit der Eltern ist riesig. Ich spüre Herzlichkeit und fühle mich willkommen, fast wie ein Teil der Familie. Und wenn ich sehe, dass Stefanie Kumli in meiner Zeit loslassen kann – dann weiss ich, warum ich das mache. Das motiviert mich jeden Tag.» Diese ergänzt: «Wir sind so dankbar. Ohne die Stiftung wäre vieles nicht möglich. Sie geben uns nicht nur Pflege, sondern Lebensqualität – und das Gefühl, nicht allein zu sein.» Die Pflegefachfrau lächelt: «Ich habe grossen Respekt vor Menschen wie Stefanie. Was sie täglich leistet, ist enorm.»
Die «Elgger/Aadorfer Zeitung» bedankt sich bei Familie Kumli und Franziska Gut für diesen eindrücklichen Nachmittag und die Offenheit, mit der sie uns an ihrem Alltag teilhaben liessen.
EMANUELA MANZARI
Stiftung Joël Kinderspitex
Interview mit Simon Fuchser, Leiter Marketing, Kommunikation und Fundraising.
Herr Fuchser, wie finanziert sich die Kinderspitex?
Simon Fuchser: Pflegeleistungen werden häufig über Krankenkassen oder die IV abgedeckt, soweit diese ärztlich verordnet sind. Zusatzleistungen wie Entlastungsstunden oder Spitalbegleitung sind so gut wie nie finanziert – dafür braucht es Spenden. Auch Gemeinden und Kantone leisten teilweise Beiträge, die Stiftung ist steuerbefreit und will Familien nicht zusätzlich belasten.
Gibt es regionale Unterschiede?
Ja – zum Beispiel im Kanton Aargau gibt es seit Juli 2022 ein spezielles Entlastungsangebot für Familien mit schwerbehinderten Kindern. Die Restfinanzierung variiert je nach Kanton.
Wie wichtig ist Fundraising?
Sehr wichtig. Spenden sichern den Fortbestand vieler Zusatzleistungen, die über die reguläre Pflege hinausgehen.
Wie ist die Kinderspitex organisiert?
Die Geschäftsstelle ist in Aarau mit Leitung, Personal, Finanzen, Marketing, Kommunikation & Fundraising, Informatik.
Es gibt fünf Regionalbüros (Aarau, Birsfelden, St. Gallen, Winterthur, Kirchberg). Pro Kind sichert ein eigenes Pflegeteam Kontinuität und Vertrauensverhältnisse.
Wie werden Mitarbeitende ausgewählt und geschult?
Es braucht Pflegefachpersonen HF/ FH oder Fachpersonen Gesundheit EFZ. Diese besuchen laufend Weiterbildungen in Kinderpflege, Palliative Care, Notfallsituationen.
Welche Werte prägen die Arbeit?
Familienzentrierte Pflege, Empathie, Kontinuität, Vertrauen und hohe Qualität. Motto: «Wir helfen schnell und unbürokratisch.»
Wie unterstützt die Stiftung ihr Team? Durch Supervision, Mentoring, Coaching und Team-Reflexion – weil emotionale Belastungen Teil dieser anspruchsvollen Arbeit sind.
Die Begegnung mit Familie Kumli zeigt, was diese Arbeit bewirken kann: Ein Lächeln, ein Moment der Ruhe, eine Familie, die wieder Kraft schöpft. Die Joël Kinderspitex steht sinnbildlich für Pflege, die weit über das Medizinische hinausgeht – für Nähe, Vertrauen und Menschlichkeit.
Warum ist die Joël Kinderspitex ursprünglich entstanden?
Die Stiftung wurde 1990 von Verena Mühlemann gegründet – ausgelöst durch den Krankheits- und Todesfall ihres Sohnes Joël. Sie erkannte, dass nicht nur das kranke Kind leidet, sondern die ganze Familie. Ziel war es, Familien mit schwer kranken oder mehrfach beeinträchtigten Kindern zu unterstützen – durch häusliche Pflege und Entlastung.
Welche Idee oder welches Bedürfnis stand am Anfang?
Kinder mit schweren Erkrankungen sollten möglichst zu Hause, in vertrauter Umgebung, gepflegt werden können – statt ausschliesslich stationär. Auch die Familie sollte Entlastung finden. Ein Grundsatz von Beginn an: schnelle und unbürokratische Hilfe.


