Drei Physiker, ein Irrenhaus und ein tödliches Spiel
18.11.2025 ElggDie Kulturkommission Elgg lud zur Aufführung von Friedrich Dürrenmatts Klassiker «Die Physiker» ins Werkgebäude. Die Schauspielerinnen und Schauspieler des Theaters Kanton Zürich begeisterten das Publikum mit einer packenden Inszenierung rund um Wahnsinn, ...
Die Kulturkommission Elgg lud zur Aufführung von Friedrich Dürrenmatts Klassiker «Die Physiker» ins Werkgebäude. Die Schauspielerinnen und Schauspieler des Theaters Kanton Zürich begeisterten das Publikum mit einer packenden Inszenierung rund um Wahnsinn, Wissenschaft und Verantwortung.
Die Affiche versprach ein volles Haus – und so war es auch. Vor dem Werkgebäude drängten sich gegen Hundert Schülerinnen und Schüler, die für sie reservierte Hälfte des Saals war noch leer, die andere, inklusive Balkon, bereits bis auf den letzten Platz besetzt. Als die Lehrpersonen beschlossen, die Jugendlichen hereinzulassen, stiegen Lärmpegel und Erwartung, auf das, was da kommen würde. Die Klassen waren gut vorbereitet: «Wir haben die Geschichte gelesen, ich finde sie cool. Gut, dass immer stand, wer was sagt,» erklärte ein Schüler. Klang nach einem Reclam-Büchlein. Gewisse Dinge ändern sich eben nie.
Dramatische Musik kündigte den Schritt von der Theorie in die Praxis an – das Stück begann. Auf der Bühne lag von einem Sessel verdeckt die tote Krankenschwester Irene Staub, erdrosselt von Patient Ernst Heinrich Ernesti, der sich für Albert Einstein hält. Es ist bereits der zweite Mordfall im noblen Sanatorium Les Cerisiers. Die erste Pflegekraft war zuvor von Isaac Newton, der in Wirklichkeit Herbert Georg Beutler heisst, mit der Vorhangkordel umgebracht worden. Die beiden sind nicht die einzigen Patienten: Der Dritte im Bunde ist Johann Wilhelm Möbius. Die Leiterin, Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd, versucht, die Vorfälle herunterzuspielen – sie fürchtet um ihren guten Ruf. Die Ermittlungen von Kriminalinspektor Voss bleiben im alltäglichen Irrsinn der Anstalt stecken, die Täter sind zwar bekannt, aber offensichtlich unzurechnungsfähig.
Überraschende Wende: Wer ist nun wirklich verrückt?
Die drei Physiker bewegen sich innerhalb des Hauses nach eigenen Regeln.
Möbius, überzeugt von den Visionen König Salomos, hütet seine Entdeckungen wie ein gefährliches Geheimnis. Zwischen den Wänden der noblen Heilanstalt entfaltet sich ein perfides Spiel aus Intrigen, Täuschungen und dramatischen Wendungen. Jeder Mord, jede List dient dazu, das Wissen zu sichern oder persönliche Vorteile zu wahren. Im zweiten Akt nimmt das Stück eine unerwartete Wendung: Die vermeintlich verrückten Einstein und Newton entpuppen sich als Agenten. Sie hatten die Morde ausgeführt, um Möbius’ Entdeckungen für ihre jeweiligen Mächte zu sichern. Einstein ist in Wirklichkeit Maria Eisler, im Einsatz für den Ostblock und Newton, alias Alec Jasper Kilton, Spion des Westens. Möbius selbst, der lange als der «Einzige Irre» galt, bleibt überraschend moralisch und verantwortungsbewusst – er will seine bahnbrechenden Forschungen vor dem Missbrauch schützen. Newton bringt die verfahrene Situation auf den Punkt: «Wir haben Pionierarbeit zu leisten und ob die Menschheit den Weg zu gehen versteht, den wir ihr bahnen, ist ihre Sache, nicht die unsrige.» Möbius drängt seine Kollegen, mit ihm in der Villa zu bleiben. Denn er weiss: «Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.»
Herausragende
Leistung auf der Bühne
Die wirkliche Wahnsinnige ist die Anstaltsleiterin Dr. Mathilde von Zahnd: Sie hat die Manuskripte der Welttheorie an sich gebracht und verfolgt eigene Pläne, die alles übersteigen, was die Physiker zu kontrollieren hoffen. Die scheinbare Ordnung im Sanatorium bricht zusammen, während das Publikum Zeuge wird, wie Lügen, Intrigen und Machtspiele eskalieren. Die schlimmstmögliche Wendung (Dürrenmatt) ist damit eingetreten. Die Auflösung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet.
Friedrich Dürrenmatt schrieb «Die Physiker» 1961, mitten im Kalten Krieg – also in einer Zeit, in der sich Ost und West mit immer gefährlicheren Waffen überboten und die Atombombe schon Realität war. Dürrenmatt war damals überzeugt: Der Mensch ist nicht reif genug, um seine eigenen Erfindungen zu beherrschen. Er wollte mit dem Stück zeigen, wie Wissenschaft und Verantwortung untrennbar zusammengehören – und wie katastrophal es ist, wenn Forscher ihre Erkenntnisse in die Hände von Politik oder Militär geben.
Er schrieb über seinen Schluss: «Die Geschichte ist zu Ende, aber die Gelehrten haben weiterzuleben.» Sein Werk ist sowohl philosophisch als auch politisch – und bis heute aktuell, wenn man an KI, Gentechnik oder die wiederaufflammende Atomwaffen-Diskussion denkt.
Die Umsetzung, die die Schauspielerinnen und Schauspieler des Theaters Kanton Zürich am Donnerstagabend in Elgg zeigten – teils in Mehrfachrollen – war Kunst auf hohem Niveau. Vor allem die Hauptdarsteller Katharina von Bock als Mathilde von Zahnd und Michael von Burg als Möbius gingen in ihren Rollen auf, sie lebten die beiden Charaktere zu 100 Prozent. Der langanhaltende Applaus nach fast zwei Stunden galt selbstverständlich und verdienterweise allen Darstellern. Es war schlichtweg «grosses Kino», was auf der Bühne des Werkgebäudes gezeigt wurde.
MARIANNE BURGENER


