Die vielen zweiten Chancen des Lebens
19.11.2024 Aadorf«Second Chance» – unter diesem Motto stand der diesjährige WSP-Event. In gewohnt lockerer Manier führte Lukas Studer seine Gäste aus Wirtschaft, Sport und Politik durch die Podiums-Diskussion. Der FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt hatte es dem bekannten ...
«Second Chance» – unter diesem Motto stand der diesjährige WSP-Event. In gewohnt lockerer Manier führte Lukas Studer seine Gäste aus Wirtschaft, Sport und Politik durch die Podiums-Diskussion. Der FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt hatte es dem bekannten Sportmoderator dabei besonders angetan.
Die über 200 Gäste dieses gesellschaftlichen Highlights erlebten einmal mehr einen amüsanten Abend, die meisten dürften «Wiederholungstäter» sein. Auch in der Agenda des SRF-Moderators ist der Termin seit 13 Jahren fix eingetragen, für ihn sei der Anlass ein wenig wie nach Hause kommen.
Als erster Gast der Gesprächsrunde betrat der achtfache Weltmeister im Orientierungslauf, Matthias Kyburz, die Bühne. Seit diesem Jahr versucht er sich mit Marathonlaufen in einer neuen Disziplin und hat dafür vorübergehend Karte und Kompass an den Nagel gehängt. Seine Begründung: «Im OL-Sport ist man viel unterwegs, in die 42 Kilometer kann ich vor der Haustür starten. Als Vater möchte ich nun mehr Zeit mit der Familie verbringen.» Sein Marathon-Debüt gab er am 7. April in Paris und knackte dabei gleich die Olympia-Limite. An den Olympischen Sommerspielen beeindruckten ihn die Tausenden von Zuschauern an der Strecke sowie das immense mediale Interesse. Etwas, das er vom OL her nicht kennt, trotz seiner acht Weltmeistertitel. «Für die Weltmeisterschaft in der Schweiz habe ich mich drei Jahre vorbereitet, für den Marathon drei Monate, trotzdem war die Aufmerksamkeit ungemein grösser. Diese fehlende Wertschätzung des OL-Sports tut mir schon etwas leid.» Als Mitbringsel zeigte Kyburz eine seiner Startnummern, die er im Laufe der Karriere erhalten und mit denen er die Decke seines Kinderzimmers tapeziert hat. Die Nummern haben für ihn eine grosse Symbolkraft. Man dürfe nicht alles am Resultat aufhängen, der Weg dorthin sei das Ziel. Die Motivation und die Erinnerungen an den Wettkampf seien ebenso wichtig.
Dem Sportler folgte mit Beatrice Forster die Vertreterin aus der Wirtschaft.
Unter ihrer Leitung wurde das Hotel Heiden als Top-Ausbildungsbetrieb ausgezeichnet. Eine Ehrung, die sie mit Freude aber auch Humor kommentierte: «Appenzell Ausserhoden ist ein kleiner Kanton, das ist man schnell an der Spitze.» Ihre beeindruckende Karriere startete die 61-jährige mit einer Lehre als Detailhandelskauffrau, gefolgt von diversen Weiterbildungen, darunter ein Executive MBA in General Management an der HWZ Zürich. Beruflich durchlief Forster zahlreiche Positionen bis in die Geschäftsleitung der Volg Finanz und Immobilien. Eigentlich hätte sie gerne Sportartikelverkäuferin gelernt, aber daraus wurde nichts. So nutzte sie ihre zweite Chance und trat die Ausbildung bei Volg an. Auch privat zeigte sich Beatrice Forster als dynamische und vielseitige Persönlichkeit. Sie war lange Zeit aktiv im Volleyballsport, sowohl als Spielerin in den Nationalligen und als Präsidentin von Volley Aadorf. Mitgebracht hatte sie ein dickes Kochbuch einer Zürcher Autorin mit regionalen und saisonalen Rezepten. «Die Gerichte darin kann sogar ich nachkochen.»
Zuletzt betrat FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt die Bühne. Der aufstrebende Politiker und Jungunternehmer blickt auf einen bewegten Werdegang zurück – mit nicht nur einer zweiten Chance. So hätte er zu Gymizeiten lieber anderes gemacht als Latein zu büffeln. Als er die Schule aufgab und anstatt dessen eine Banklehre bei der ZKB anfing, waren seine Eltern nicht sehr erfreut, liessen ihn jedoch gewähren. So tauschte er Baseballcap gegen Anzug und Krawatte, was sein Leben nachhaltig verändert habe, wie er sagt: «Plötzlich stand ich am Schalter und musste Kunden bedienen, eine Verantwortung, die ich vorher nicht kannte.» Nach der Lehre studierte er Betriebsökonomie und schloss einen Master in Global Finance ab. Weiter ist Andri Silberschmidt Mitgründer und Verwaltungsratspräsident des Gastrounternehmens Kaisin. Mitgebracht hatte er seinen Ehering, als Zeichen der Vollendung: «Ich werde bald Vater, dann fängt eine neue Zeitrechnung an. Auch wenn alles neu wird, die Familie hat Bestand und ist ein zentraler Wert.» Ganz im Gegensatz zur Politik oder zum Unternehmertum, beides sei nie abgeschlossen, müsse ständig optimiert und verändert werden.
Eine Ehefrau dank neuer Schaufelzähne
Rückblickend auf die Kindheit und Jugend entlockte Lukas Studer seinen Gästen die eine oder andere Anekdote über genutzte und verpasste Chancen oder zu Ereignissen, die Weichen zum heutigen Leben gestellt hatten. Beatrice Forster denkt gerne an die gemeinsamen Sonntage zurück, die sie mit ihrem Vater, der Kunstturner war, in der Turnhalle verbrachte. Der Grundstein zu ihrer Laufbahn als Leichtathletin und später als Volleyball-Spielerin. Für Matthias Kyburz waren seine zwei grösseren Brüder prägend, die für den OL-Sport brannten, während er selbst Fussball spielte. Als er dem Trainer für ein Wochenendspiel absagte, weil er einen Orientierungslauf absolvieren wollte, erklärte ihm dieser, dass er in dem Fall auf dem grünen Rasen nichts mehr zu suchen hätte – er gab ihm sozusagen den «Laufpass», wie später Dr. Walter Grünspan in seiner humoristischen Zusammenfassung rekapitulierte. Des Geldes wegen wäre er vielleicht besser beim Fussball geblieben, vom Orientierungslauf leben könne man trotz Spitzensport und Weltmeistertitel nicht: «Das Preisgeld an der Europameisterschaft im Tessin war eine Salami!»
Für Silberschmidt waren die Möglichkeiten der Zahntechnik verantwortlich, dass er heute da steht, wo er ist: «Mit elf Jahren habe ich mir bei einem Skiunfall die Schaufelzähne ramponiert – meine erster Gedanke war damals ‹So findi nie e Frau›, zum Glück hat sich das nicht bewahrheitet.» Eine gefundene Gelegenheit für Studer nachzufragen, wie sich die neuen Zähne im Detail auf den Findungsprozess ausgewirkt hätten. Ganz der Politiker, wich der Gefragte allzu gwunderigen Fragen geschickt aus.
Grünspans Zusammenfassung als weiteres Highlight
Bevor der Gesandte aus dem Bundeshaus, Dr. Walter Grünspan, seine mit Spannung erwartete, berühmt-berüchtigte Zusammenfassung des Abends wiedergab, erzählten die drei Gäste, welche Gelegenheiten sie als nächstes packen möchten und wem sie keine zweite Chance gewähren würden. Für Kyburz eine klare Sache: Im Frühling läuft er in Sevilla einen weiteren Marathon. Dann folgt für ihn die OL-WM im finnischen Wald, wo er hofft, mit dem Gewinn der Langdistanz-Goldmedaille die letzte Lücke in seinem Palmarès zu schliessen. Seinen Respekt nicht verdient hat, wer: «Dopt, betrügt oder die Spielregeln hintergeht».
Silberschmidt, der im Verlauf des Abends nicht nur von Studer immer wieder gefordert wurde, sondern auch von Grünspan «sein Fett abbekam», hofft, mit seiner parlamentarischen Initiative, die im ersten Anlauf im Ständerat scheiterte, im zweiten durchzukommen. Sie soll Unternehmern ermöglichen, ebenfalls Arbeitslosengelder zu beziehen. «Immerhin zahlen sie auch in den Fonds ein und haben damit Entschädigungsanspruch, wie alle anderen Angestellten.» Keine Zusatzchance mag er Menschen geben, die einen komplett anderen Werte-Kompass verfolgen als er.
Forster wünscht sich, das Hotel Heiden weiterhin erfolgreich – oder noch erfolgreicher – zu führen und zu festigen. Natürlich möchte sie auch im nächsten Jahr die Auszeichnung als Top-Ausbildungsbetrieb wieder erhalten. Die Frage nach der zweiten Chance empfand sie als heikel: «Eine gefährliche Frage. Für mich haben Lügner und Betrüger, die, wenn sie ertappt werden, immer noch lügen, keinen Neustart bei mir verdient. Ebenso nicht, wer mich boshaft hintergeht.»
Den Abschluss machte, wie bereits im letzten Jahr, der verwirrte, bisweilen auch etwas verirrte Grünspan – der ebenso wie im Vorjahr, für sein gewaltiges Wortwerk grossen Applaus und viel (verdiente) Anerkennung erhielt. Wer am Anlass zu Gast war, wurde rundum reich belohnt, wer nicht da war, hat etwas verpasst.
MARIANNE BURGENER