Die Rehkitzretter
16.07.2024 Jakobstal
Von Mitte Mai bis Mitte Juni ist Hochsaison für die Rehkitzretter. In dieser Zeit bekommt die häufigste Wildart in der Schweiz ihre Jungtiere. Diese werden in waldnahen Wiesen abgelegt. Gleichzeitig wird von den Landwirten das erste Mal gemäht.
Mitte Juni, ...
Von Mitte Mai bis Mitte Juni ist Hochsaison für die Rehkitzretter. In dieser Zeit bekommt die häufigste Wildart in der Schweiz ihre Jungtiere. Diese werden in waldnahen Wiesen abgelegt. Gleichzeitig wird von den Landwirten das erste Mal gemäht.
Mitte Juni, gegen 5 Uhr morgens am Eichbüel, oberhalb von Jakobstal. Drohnenpilot Bruno Holliger sowie seine Helferinnen und Helfer, Freiwillige des Vereins Rehkitzrettung Schweiz und Mitglieder der Jagdgesellschaft Hegiberg-Schlatt, blicken angestrengt auf die Bildschirme und suchen nach Wärmebildsignaturen. Die Wiese soll heute gemäht werden, deshalb suchen sie nach Rehkitzen. «Da könnte etwas sein», sagt der Pilot. Findet sich eine verdächtige Stelle, machen sich ein Jäger und Helferinnen auf den Weg. Die Drohne steht währenddessen über dem ausgemachten Punkt, mit Funkgeräten lotst der Pilot seine Leute. Manchmal ist es nur ein Liegeplatz eines anderen Tiers, manchmal sind es grosse Steine, Schachtdeckel oder Erdhaufen. Ist es aber ein Kitz, wird es durch den Jäger eingefangen, in einer Box untergebracht und sicher an einem Schattenplatz am Waldrand abgestellt.
Die Rehkitzrettung ist für den Verein Rehkitzrettung Schweiz sowie die Jägerinnen im ganzen Land eine Herzensaufgabe. Während der Hauptsaison ist Schlaf Mangelware, teilweise täglich sind sie unterwegs. Der Grund: Rehe legen ihren Nachwuchs im hohen Gras ab. Die praktisch geruchlosen Jungtiere haben in den ersten Wochen keinen Fluchtreflex, im Gegenteil: Bei Gefahr kauern sie reglos im hohen Gras, damit etwa ein Fuchs sie nicht wahrnimmt. Dies wird aber für die Landwirte schnell zum Problem. Auch bei Gefahr durch Landmaschinen verhalten sie sich entsprechend. Da ein Kitz im hohen Gras nur schwer auszumachen ist, kommt es immer wieder zu tragischen Unfällen, bei denen Tiere schwer verletzt oder getötet werden.
Wenn die Sonne scheint, wird es zu warm
An diesem Morgen sind die Rehkitzretterinnen bereits seit Stunden im Einsatz. Während des Tages wird es schnell zu warm, sodass keine Wärmebildsignaturen mehr erkennbar sind. Nur solange die Sonne noch nicht auf die Wiesen scheint, besteht eine Chance die Jungtiere zu finden. Bruno Holliger beschäftigt sich seit 2018 mit der Kitzrettung; unzählige Tiere hat er schon mithilfe seiner Drohne gefunden. «Ich kaufte Ende 2017 eine Drohne und flog ein bisschen damit. Ich fand es cool, aber irgendwann nicht mehr so spannend und dachte, ob man damit auch etwas Sinnvolles machen kann», erklärt er. «So bin ich dann über Umwege beim Verein Rehkitzrettung Schweiz gelandet, wo ich seit 2018 Mitglied im Vorstand bin. Dass man mit dem Hobby einen so guten Anwendungsfall hat, wie die Rehkitzrettung, ist natürlich eine grossartige Sache.»
Immer Teil der Rehkitzrettung sind Mitglieder der Jagdgesellschaften der jeweiligen Gebiete. Markus Meier, Obmann und Jagdaufseher in den Jagdrevieren Schlatt und Winterthur-Hegiberg, wuchs mit der Jagd auf. Ihn begleitet das Thema Kitzrettung schon sehr lange: «Die Jäger haben sich schon seit jeher zusammen mit den Bauern dafür eingesetzt. Erst seit wenigen Jahren ist mit Drohnen- und Wärmebildtechnik das Entdecken von Kitzen in der Wiese verlässlich möglich. Der Zweck ist nicht primär, Rehkitze zu finden und hinauszutragen. Rehkitzretter wollen sicherstellen, dass keine in der Wiese abgelegt sind und dann vermäht werden.» Auf die Frage warum die Jagdgesellschaften diesen Aufwand betreiben, antwortet er: «Schon viele Jäger mussten lautklagende Kitze erlösen, die beim Mähen verletzt wurden. Dies geht sehr nahe, das wollen und können wir vermeiden.»
Jagd und Kitzrettung – ein Widerspruch?
Aber ist dies nicht ein Widerspruch in sich? Im Frühling retten und im Herbst jagen? «Jäger erfüllen einen umfangreichen öffentlichen Leistungsauftrag. Es ist völlig natürlich, dass die Sterberate bei Jungtieren hoch ist. So muss bei der vom Kanton vorgegebenen Jagd auf Rehwild ein Kitzanteil von 25 Prozent erreicht werden. Deshalb werden im Herbst auch Jungtiere erlegt», erklärt der Jagdaufseher. «Aber unnötiges Tierleid wollen natürlich auch wir als Jäger vermeiden.»
Für dieses Jahr neigt sich die Saison langsam dem Ende zu. 32 Rehkitze wurden bisher gefunden. Bruno Holliger sieht dem Saisonende mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegen: «Ich freue mich ungemein, wenn die Saison endlich beginnt. Man freut sich auch ein bisschen, wenn sie dann wieder vorbei ist. Ich vergleiche es manchmal mit der Fasnacht: Man freut sich, dass sie kommt, während der Saison ist man voller Freude, konstant übermüdet und voller Adrenalin. Man ist dann auch froh, dass sie wieder vorbei ist. Denn ja, es ist eine sehr, sehr intensive Zeit und es ist meistens alles recht kurzfristig und ad hoc. Deshalb sind wir froh, wenn wir ein bisschen früher erfahren, was die Mähabsichten der Bauern sind, damit wir dies besser planen können.»
Ein positiver Saisonrückblick
Alle Beteiligten sind ehrenamtlich unterwegs. Rehkitzrettung ist eine herausfordernde Freizeitbeschäftigung, für Vollzeitberufstätige ist es zumindest schwierig. Je nach geplanten Wiesen die halbe Nacht mit Rehkitzrettung zu verbringen, und danach ins Geschäft, ist sicher nicht für jeden machbar. Zudem müssen die Kitze nach dem Mähen auch wieder freigelassen werden. «Ich bin froh, dass ich einen guten Arbeitgeber habe, der auch mal ein Auge zudrückt, wenn ich etwas später erscheine. Grundsätzlich geht das sehr gut aneinander vorbei», so Holliger.
Sein Resümee für dieses Jahr: «In einer so grandiosen und engagierten Teamaufstellung mit den vielen Helfern ist es eine grossartige Arbeit. Wir schauen auf eine sowohl für die Landwirte als auch für uns sehr herausfordernde Mähsaison zurück, die uns einiges abverlangte. Aber durch die gute Zusammenarbeit aller involvierten Parteien macht es grossen Spass.»
MELANIE HENNE-ISSING