Die «Guhwilmühle» spricht jetzt auch ukrainisch
29.07.2023 HofstettenDie «Guhwilmühle» feiert dieses Jahr ihr 60-jähriges Jubiläum. Beinahe kam es nicht dazu. Wie Gastronom Ruedi Schaufelberger das Beste aus der Situation machte und damit zum Hahn im Korb wurde, lesen Sie hier.
Dieses Jahr gibt es oberhalb des ...
Die «Guhwilmühle» feiert dieses Jahr ihr 60-jähriges Jubiläum. Beinahe kam es nicht dazu. Wie Gastronom Ruedi Schaufelberger das Beste aus der Situation machte und damit zum Hahn im Korb wurde, lesen Sie hier.
Dieses Jahr gibt es oberhalb des Farenbachtobels allen Grund zum Anstossen: Die touristisch gelegene Gastwirtschaft feiert ihr 60-jähriges Jubiläum. Beinahe stand die «Guhwilmühle» vor dem Aus. Ruedi und Hildegard Schaufelberger waren seit Monaten dabei, das richtige Personal zu finden. Besonders nach dem Covid-Lockdown wusste niemand, wie es mit ihrer geliebten Wirtschaft weitergeht. Trotz zahlreich ausgeschriebenen Stelleninseraten trafen die Schaufelbergers nicht auf die gewünschte Unterstützung. Sogar durch Nachfrage bei örtlichen Sozialämtern, die ihnen garantierten, so schnell wie möglich stellensuchende Personen zu vermitteln, blieb bis heute jede Antwort aus. «Den Betrieb ganz einzustellen, wäre die einzige Option gewesen», erzählt Ruedi Schaufelberger. Der Suche konnte zumindest vorübergehend ein Ende gesetzt werden. «Wir sind von unseren neuen Mitarbeitenden begeistert, trotz der Gegebenheiten und wie unvorstellbar schwer die Situation für alle Beteiligten ist.»
Die Rede ist von Nataliia Tsyba, Kateryna Ovsiienko und Olena Matvieieva. Dank ihnen herrscht wieder frischer Wind am gastronomischen Aussichtspunkt. Seit über 16 Monaten befindet sich ihre Heimat im Krieg. Mehrere Millionen Menschen sind bereits aus der Ukraine geflohen, liessen Hab und Gut, Freunde und Familie hinter sich. Trotz der schweren Krise behielten die drei ihr Lächeln. Mit viel Herzblut kümmern sie sich um jeden anzutreffenden Gast. Bei gutem Wetter kann es in der «Guhwilmühle» ziemlich hektisch werden: Meist stürmen alle auf einen Schlag ins Erlebnisrestaurant am Waldrand. Seit letztem April arbeiten Nataliia und Kateryna in der Wirtschaft als Allrounderinnen. Verwandte Schaufelbergers stellten sich als Gastfamilie für ukrainische Flüchtlinge zur Verfügung und fragten bei ihm wegen Arbeit nach. Als Nataliia, die 37-jährige Krankenschwester und Zahnarztassistentin aus Tschernihiw (rund drei Autostunden von Kiew entfernt), meinte, sie habe noch eine Schwester, die auch Arbeit sucht, stellte Ruedi Schaufelberger die beiden ein. Sie und Kateryna bestanden ihre Probezeit mit Bravour. Kürzlich konnte Nataliia sogar ihr Diplom übersetzen lassen und ist nach wie vor auf Stellensuche im Gesundheitswesen.
Kein Empfang beim Farenbach
Während Nataliia auf eine Antwort des Schweizerischen Roten Kreuzes wartet, entflammte in ihrer Schwester Kateryna das Feuer für die Gastronomie: «Die Arbeit in der ‹Guhwilmühle› ist schön und macht viel Spass. Die Leute sind immer gut gelaunt.» Die gelernte Verkäuferin für Leder- und Pelzwaren arbeitete in Fabriken in Kiew, Antalya und sogar Ägypten. Einen Deutsch-Intensivkurs braucht die 34-Jährige schon lange nicht mehr: Im Nu kletterte sie auf A2-Niveau. Und das alles, obwohl sie anfangs noch kein einziges Wort verstand.
Wie es mit der Kommunikation in der «Gumele» trotzdem funktionierte? «Viele Besuchende fragten mich, wie das gehen soll, wenn man nicht einmal zusammen reden könne», erzählt Ruedi Schaufelberger, der mittlerweile auch ein paar ukrainische Worte spricht. Der ehemalige Bauer und heutige Vollzeitgastronom meint: «In der Landwirtschaft war es damals dasselbe. Es gab viele Portugiesen, Italiener und Türken in meiner Branche. Und es klappte trotzdem irgendwie.» Obwohl sich die «Guhwilmühle» in einem Funkloch befindet, funktioniert die Translator-App einwandfrei. Fotos der angebotenen Gerichte dienten als Vorlage. Bereits am zweiten Tag wussten die beiden Schwestern über jeden vorhandenen Salatteller Bescheid. Auch die 43-jährige Olena flüchtete mit ihren beiden Kindern in die Schweiz. Seit dem 1. Mai ist die Chefbuchhalterin aus Kiew ebenfalls dort oben tätig.
«Ich will, dass du bei mir bist»
Seit Jahrzehnten ist Ruedi Schaufelberger der Grillmeister in der «Guhwilmühle» und brutzelt bis Oktober draussen über der offenen Flamme. Ob bald ein Tag pro Woche der ukrainischen Küche gewidmet wird, sei auf alle Fälle eine Überlegung wert. «Ruedi ist der beste im Grillieren», findet Kateryna. So idyllisch es im Weiler Sennhof auch sein mag, die drei Frauen vermissen ihr Zuhause zutiefst. Nataliia sagt: «Wir sehnen uns natürlich sehr nach der Heimat. Doch uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten. Solange die Situation kritisch bleibt, kann ich nicht zurückkehren.»
Wie führten ihre Wege in die Schweiz? «Ich bin einfach nur mit meinem Kind ins Auto gestiegen. Es spielte keine Rolle wohin», erzählt Nataliia. «Meine Tochter meinte zu mir, es sei egal, wo wir sterben, entweder hier oder irgendwo anders. In Ungarn verbrachte ich eine Woche. Viele Russen waren dort, was mir nicht passte. Alle zwei Stunden fuhr ein Bus in die Schweiz und ich wurde gefragt, ob ich mitgehen wolle. Ja, war meine Antwort, denn ich dachte nur: Hauptsache weg von russischen Befürwortern.»
Letzten März stieg Olena mit den Kindern und einer Freundin ins Auto und floh. Sie hatten Kontakt mit jemandem aus einer Kirche in Matzingen. Alles tat sie für ihre jüngste Tochter Vlada; die Zehnjährige reagierte sehr sensibel auf Sirenen. Olena wollte um jeden Preis psychische Folgen bei ihr vermeiden. Mittlerweile kann sie stolz berichten: «Vlada konnte das Geschehene vergessen und ist jetzt so gut in der Schule. Ihre Lehrpersonen schwärmen von ihr.»
Für Kateryna ging der Weg zuerst nach Polen. Dort suchte sie Arbeit. Als sich ihre Schwester bei ihr meldete, ging es weiter in die Schweiz. «Ich will, dass du bei mir bist», sagte sie zu ihr. «In meiner ersten Nacht übernachtete ich in einem Fitnesscenter.» Am nächsten Tag erschien eine Gastfamilie, um sie abzuholen. «Zuerst weigerte ich mich, ich wartete ja schliesslich auf meine Schwester.» Beide wurden in benachbarten Gastfamilien untergebracht. «Ich und Nataliia wohnten nebeneinander und winkten uns jeden Morgen zu», lacht Kateryna. «Für die ganze Unterstützung sind wir unheimlich dankbar.»
Ruedi Schaufelberger ist stolz auf seine Mädels: «Viele können sich ein Stück von ihnen abschneiden: In kürzester Zeit haben sie so viel im Service geleistet und gelernt.» Seinen Dank widmet er auch seiner jahrelang treu gebliebenen Servicefachangestellten Soldanella Rietiker: «Ich danke ihr von Herzen für ihren unermüdlichen Einsatz.»
Politischer Kontaktabbruch
Was sich Olena, Kateryna und Nataliia für die Zukunft wünschen? natürlich, dass der Krieg vorbei ist. Nataliia sagt: «Ob wir nächstes Jahr noch hier sind, hängt von unserem Schutzstatus ab. Wenn Arbeit und Wohnung passen, kann ich mir vorstellen, hier zu bleiben.» Für Olena kommt Integration nicht infrage. Sie möchte so schnell es geht nach Hause zurück. «Ich vermisse meine Heimat so sehr. Ich bin der Schweiz dankbar, doch sobald der Krieg zu Ende ist, gehe ich.» Für alle steht fest: Sie hatten ein schönes Leben. Wladimir Putin habe dieses nun zerstört.
Derzeit könne niemand in der Ukraine einem geregelten Alltag nachgehen. Aufgrund der Gefahr könne nicht jeden Tag die Schule oder Arbeit besucht werden. Unzählige Infrastrukturen, Fabriken und Wohnhäuser wurden von den Russen komplett zerstört. Sind aus Nachbarn nur noch Feinde übrig? «Meine Mutter ist Russin, lebt aber schon ihr ganzes Leben in der Ukraine. Es besteht kein Kontakt zu ihrem Bruder, der in Russland lebt», erzählt Nataliia. Olena sagt: «Am Anfang dachte ich, der ganze Konflikt sei ein politisches Problem mit Putin. Doch mittlerweile denkt auch die russische Zivilisation wie er. Alle folgen seinen Wünschen und freuen sich sogar, dass die Ukraine in Schutt und Asche liegt. Die richtigen Menschen sind jene, die sich vor solchen Situationen schützen. Euphorie darüber kann und will ich nicht verstehen. In Odessa (ehemaliges russisches Gebiet) sprechen über 90 Prozent der Bevölkerung russisch. Der Ort gleicht einem Scherbenhaufen. Es wird sogar gesagt, dass sie die Bevölkerung schützen wollen. Doch das komplette Gegenteil ist der Fall. Wir sind keine Freunde mehr, sondern Feinde.»
Fest steht jedenfalls, dass die «Guhwilmühle» ihrem Personalmangel ein vorübergehendes Ende setzen konnte. Die drei Ukrainerinnen schwärmen: «Wir sind dankbar für alles, was die Schaufelbergers und unsere Gastfamilien für uns getan haben. Für die ganze Geduld und Zeit, die sie aufbrachten und für die schöne Atmosphäre, die hier oben herrscht. Die Arbeitstage sind lang und am Abend ist man müde – doch wir freuen uns, am nächsten Tag wieder hierher zu kommen. Ruedi und Hildegard, ihr seid einfach super!» Ein herzlicher Dank gilt auch Janna Mantel, die sich an jenem Tag als Dolmetscherin zur Verfügung stellte.
JULIA MANTEL