Der ungleiche Kampf gegen die Wildschweine
20.08.2024 RegionWo Wildschweine über die Felder ziehen, wächst kein Gras mehr. Auch kein Mais oder Kartoffeln, kein Weizen oder Raps und keine Zuckerrüben. Rotten mit bis zu 25 Tieren können über Nacht die Fläche eines Fussballfeldes zerstören.
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Wo Wildschweine über die Felder ziehen, wächst kein Gras mehr. Auch kein Mais oder Kartoffeln, kein Weizen oder Raps und keine Zuckerrüben. Rotten mit bis zu 25 Tieren können über Nacht die Fläche eines Fussballfeldes zerstören.
Vor dem Schreibenden im Wald riecht es penetrant nach Maggi. Genau genommen nach dem Aromastoff Sotolon, der wie die Maggi-Würzsauce oder Liebstöckel, auch Maggikraut genannt, riecht. Hinter den Büschen essen aber keine Pfadfinder ihre Suppe aus den Gamellen – dort verstecken sich Wildschweine. Wenn diese aggressiv sind, werden sie im wörtlichen Sinne stinkig. Und hinter den Büschen steckt ein Problem: Ein Muttertier, Bache genannt, mit ihren Jungtieren. Ein Problem, das 150 Kilogramm schwer ist, mit einem kräftigen Gebiss und scharfen Eckzähnen – und mit 40 Kilometer pro Stunde so schnell wie ein E-Bike.
Rechtsumkehrt! Zurück zur Landwirtin, auf deren Äckern im Kanton Zürich der Rest der Wildschweinrotte wütet. Mit Rüssel und Eckzähnen wühlen sie nach Engerlingen, Würmern und Mäusen. Sie sind scharf auf das tierische Eiweiss unter dem Boden. Und auf die landwirtschaftlichen Kulturen wie Mais und Kartoffeln, Weizen und Raps sowie Zuckerrüben.
Die Landwirtin hat ihren Weizen mit einem dreifach gespannten und mit 10’000 Volt extra starken elektrischen Weidezaun gesichert. Dessen blauen Litzen berührt man besser nicht, das fitzt saumässig. Und vom akustisch-optischen Wildschwein-Schreck am Feldrand bekommen Wanderer fast einen Herzinfarkt. Die Wildschweine lassen sich aber nicht beeindrucken. «Nichts kann sie aufhalten», klagt die Landwirtin, «es kommen immer mehr!»
Nicht einmal die Autobahn kann sie aufhalten
Dabei galten die Wildschweine in der Schweiz im 20. Jahrhundert als ausgerottet. Abholzung und Übernutzung der Wälder sowie die Jäger machten ihnen den Garaus. Gejagt wurde das Schwarzwild, wie die Tiere wegen ihrer Fellfarbe auch genannt werden, weil die Jäger mit einem einzigen erlegten Tier ihre Familien wochenlang ernähren konnten. Ein Überläufer – ein einjähriges Wildschwein – mit 60 Kilogramm Lebendgewicht bringt 24 Kilogramm bestes Fleisch und dazu bis zu zehn Kilogramm Speck.
Erst in den 1920er-Jahren kamen aus Frankreich, Deutschland und Italien wieder Wildschweine in die Schweiz. In den 1980er-Jahren stieg der Bestand stark an und ab 2000 explodierte die Population regelrecht. Die bevorzugten Reviere des schwarzwilds in der Schweiz sind im Malcantone, Kanton Tessin, im Unterwallis, entlang des Jurabogens in den Kantonen Waadt, Neuenburg, Jura und Bern sowie im Mittelland in den Kantonen Solothurn, Aargau, Zürich und Thurgau. Hier wurden die Wildschweine lange von der Autobahn A1 zurückgehalten. Seit einigen Jahren nutzen sie aber frech Unterführungen und Autobahnbrücken, um auf die Südseite zu kommen.
Wie gross die Schwarzwildpopulation in der Schweiz heute ist, kann nur geschätzt werden. Sicher ist, dass es immer mehr werden. Fachleute gehen davon aus, dass sich die Zahl seit dem Jahr 2000 von 10’000 auf über 30’000 erhöhte.
Wildschwein-Schäden bis 25’000 Franken pro Jahr
Wildschweine durchwühlen oft «nur» die obersten fünf Zentimeter der Bodenschicht, das dafür über ein ganzes Feld. Und wenn ihr guter Geruchssinn Mäuse anzeigt, graben sie mit Eckzähnen und Rüsseln bis zu zwei Quadratmeter grosse und 60 Zentimeter tiefe Krater. Ein Wildschwein durchwühlt täglich 120 Quadratmeter. Ein einziges zerstört pro Jahr eine Ackerfläche von 4,4 Hektaren oder sechs Fussballfeldern, eine Rotte deren 154.
«In meinen Äckern und Kunstwiesen habe ich nicht nur eine Rotte, sondern gleich drei», erzählt die Landwirtin, welche die Schäden zeigt. Wildschweine verursachen allein auf ihrem Betrieb im Norden des Kantons Zürich jedes Jahr einen direkten Schaden von über 10’000 Franken. Dazu kommen die langfristigen Folgekosten. Im verregneten Frühling konnte die Landwirtin mit dem Traktor nicht auf die durchnässten Wiesen, um die Schäden zu beheben. Selbst im besten Fall müssten die Kühe mit Erde verschmutztes Gras fressen. Weil ihre 30 Milchkühe deshalb jährlich 1000 Liter weniger Milch geben, verliert die Zürcher Landwirtin weitere 15’000 Franken pro Jahr.
Gesamtschweizerisch verursachten die Wildschweine von 2010 bis 2022 jährliche Schäden von 2,6 bis 4,3 Millionen Franken, zusammengerechnet über 41 Millionen. Am schlimmsten erwischt es die Kantone Aargau und Waadt mit je 6,7 Millionen, Thurgau mit 4,9, Jura mit 4,2, Zürich mit 3,8 und Tessin mit 3,2 Millionen Franken. Die Entschädigungen sind kantonal geregelt und sehr unterschiedlich. Die einzige Konstante: Entschädigungen werden nur ausgezahlt, wenn Landwirte und Jäger «zumutbare Massnahmen zur Verhinderung» getroffen haben.
Wenn ein Landwirt nicht mehrere Tausend Franken in superstarke Weidezaungeräte und kilometerweise spezielle Litzen investiert hat, und wenn die Jäger auf seinem Land keine Hochsitze aufgestellt haben, gibt es keine Entschädigung. Die langfristigen Folgekosten werden gar nicht entschädigt.
Mit Nachtsichtgeräten auf die Wildschweinjagd
Die gesamtschweizerischen Abschusszahlen schwanken seit 2010 von Jahr zu Jahr. Im schwächsten Jahr 2011 wurden nur 4263 Wildschweine erlegt, im stärksten 2021 fast 13’000. Im jährlichen Durchschnitt beträgt die Jagdstrecke 8259 Tiere. Nach Ansicht der Landwirtinnen und Landwirte viel zu wenig.
Das Schwarzwild ist scheu, schlau und äusserst lernfähig. In ihren Hochsitzen am Feldrand müssen die Jäger oft tagelang ansitzen und auf das Wild warten. Wenn die Rotte endlich ins Schussfeld kommt, darf nicht jedes Tier erlegt werden. Schiesst ein Jäger eine Muttersau ab, die ihren Jungen Milch gibt, droht ihm eine empfindliche Busse.
Um die Wildschweinjagd effizienter zu machen, erlauben einzelne Kantone die Nachtjagd und Nachtsichtgeräte. Oder sie lockern die Schonzeit, die normalerweise von Februar bis Juni dauert. Frischlinge und Überläufer dürfen sogar in der Schonzeit erlegt werden.
Die Jagd auf das Schwarzwild muss aber intensiver werden, sonst werden die Wildschweinbestände und deren Schäden weiter ansteigen. «Der Erfolg ist auch eine Frage des Jagdsystems», erklärt Martin Baumann vom Bundesamt für Umwelt, «je nach Kanton haben wir eine Patent- oder Revierjagd. In Kantonen mit Patentjagd ist die Wildschweinpopulation meist besser unter Kontrolle», weiss er, «weil dort der Jagddruck höher ist als bei der Revierjagd.» Aber auch mit ihr sei es möglich, effizient Wildschweine zu jagen, wenn die Jagdgesellschaften über ihre Reviere hinaus kooperieren und andere Methoden einsetzen.
Mit Jagdhunden die Wildschweine aufstöbern
Künftig werden deshalb neue «Jäger» auf die Wildschweine losgelassen: speziell ausgebildete Jagdhunde. Damit diese Stöberhunde von den Wildschweinen nicht verletzt werden – 150 Kilogramm Wildschwein mit scharfen Eckzähnen stehen 25 Kilogramm Jagdhund gegenüber – müssen die Hunde den richtigen Umgang mit dem Schwarzwild lernen. Dafür wurde 2019 als nationales Projekt in Elgg ein Schwarzwildgewöhnungsgatter eröffnet. Auf dem sechs Hektaren grossen Trainingsgelände lernen Jagdhunde, die Wildschweine schnell aufzufinden, sie aus dem Gestrüpp zu treiben – und dennoch einen respektablen Abstand einzuhalten.
Mit solchen Jagdhunden können Jagdgesellschaften die Wildschweine vor allem im Winter sehr effizient tagsüber jagen. Und im Sommer können sie das Schwarzwild aus den landwirtschaftlichen Kulturen vergrämen. Ein Lichtblick für die verzweifelte Landwirtin, auf deren Bauernhof die Wildschweine mitten am Tag schon den Garten umgraben.
JÜRG VOLLMER
Fünf Gründe
Die Bestandeszunahme der Wildschweinpopulation hat fünf Ursachen, die zusammenspielen:
• In der modernen Landwirtschaft finden die Wildschweine ein reiches Nahrungsangebot mit Mais, Weizen, Raps, Kartoffeln und Zuckerrüben.
• Im Wald sorgt der Klimawandel für mehr sogenannte Mastjahre von Buchen und Eichen. Früher wurden in solchen Jahren die Hausschweine zur Mast in den Wald getrieben, um sie mit Buchennüssen und Eicheln zu füttern. Heute fressen sich die Wildschweine daran satt.
• Weil es in der Landwirtschaft und im Wald mehr Futter gibt, werden die weiblichen Jungtiere oft schon mit sechs Monaten trächtig und werfen das ganze Jahr über Frischlinge.
• Mit dem Klimawandel gibt es immer mildere Winter, sodass die Frischlinge kaum dezimiert werden.
• Jäger bevorzugen wegen der imposanten Hauer als Trophäen die Keiler – also die männlichen Wildschweine. Ohne konsequente Bejagung der weiblichen Jungtiere verdreifacht sich die Population aber in einem Jahr.
Die ersten vier Punkte sind menschengemacht und nicht mehr rückgängig zu machen. Der fünfte Punkt hingegen wäre machbar. Die Schweizer Jäger erlegten 2022 nur 49 Prozent Jungtiere, dafür aber 26 Prozent Keiler und deren 25 Bachen. Für die Bestandesregulierung hätte die optimale Jagdstrecke 80 Prozent Jungtiere und nur deren 15 Bachen und fünf Prozent Keiler. Es sind aber alle fünf Punkte zusammen, die verheerende Auswirkungen auf die Landwirtschaft haben.